Buchtipp: Erdoğans Aufstieg

Auf dem Buchdeckel blickt einem Recep Tayyip Erdoğan entgegen, wie man ihn aus den Nachrichten kennt, mit ernstem Blick, Krawatte und Anzug. Dreht man das Buch aber um, ist Erdoğan im Gewand eines Sultans zu sehen. Der Comic vertritt entschieden die These, dass Erdoğan nicht etwa ein moderner islamischer Demokrat war, der sich – aus welchen Gründen auch immer – in einen Despoten verwandelt hat. Sondern dass die Fassade des pro-westlichen Anzugträgers von Beginn an nur einem einzigen Zweck diente: sich die größtmögliche Macht zu sichern.

Journalist Can Dündar und Zeichner Mohamed Anwar erzählen auf 320 Seiten detailreich nach, wie dieser Aufstieg gelungen ist. Der Comic setzt in Erdoğans Geburtsjahr 1954 an, er berichtet von seiner Kindheit und Jugend als Koranschüler und begeisterter Fußballer, von seinen Anfängen in der Politik, seinem Machtkampf mit dem islamistischen Politiker Necmettin Erbakan, der als Erdoğans politischer Ziehvater gilt, von herben politischen Rückschlägen, Erdoğans Zeit im Gefängnis und seiner akribisch geplanten Rückkehr, die ihn schließlich an die Spitze des Landes führt. 

„Demokratie ist für uns nicht Ziel, sondern ein Mittel“, ist ein Zitat Erdoğans, das sich durch das Buch zieht. Am Schluss der Geschichte ist Erdoğan auf dem Gipfel der Macht angekommen, er sitzt auf dem Thron des Sultans. Can Dündar hat am eigenen Leib erfahren, wie sich Erdoğans Verständnis von Demokratie auf die Menschen auswirkt. Der ehemalige Chefredakteur der Tageszeitung „Cumhuriyet“ wurde wegen kritischer Berichterstattung von einem türkischen Gericht zu einer langen Haftstrafe verurteilt. Er lebt mittlerweile in Deutschland und leitet das türkischsprachige Exilmedium #Özgürüz.

Dündar und Anwar zeigen, wie Erdoğan immer wieder zwischen seiner Rolle als moderner Reformer und seinen religiösen Überzeugungen wechselt: etwa, als er beginnt, in den 1980er-Jahren Frauen in den Wahlkampf einzubeziehen, um seine damalige Partei auch für fortschrittlich denkende Bürger*innen interessant zu machen. Und wie er wiederum ein paar Jahre später, als frisch gewählter Bürgermeister Istanbuls, auf das Wasserproblem der Stadt mit einem „Regengebet“ reagieren will. Man erfährt zudem ein pikantes Detail: Bei einer seiner ersten wichtigen Wahlen – der zum Vorsitzenden der Istanbuler Parteijugend der Nationalen Heilspartei MSP – gewann Erdoğan nur, weil er die Wahl manipulieren ließ.

Es sind Details wie diese, die erschüttern, aber zugleich dazu führen, dass diese Nacherzählung von Erdoğans Aufstieg bemerkenswert kurzweilig ausfällt. Die Schwarz-Weiß-Zeichnungen von Comiczeichner und Karikaturist Mohamed Anwar basieren auf Original-Bildmaterial und sind so realitätsgetreu wie möglich gehalten.

Der Comic beschränkt sich streng auf die Zeit von Erdoğans Geburt bis zum Beginn der 2000er-Jahre, in denen er AKP-Vorsitzender und Ministerpräsident der Türkei wurde. Für das tiefere Verständnis der gesellschaftlichen Umstände, in denen Erdoğan so mächtig werden konnte, wäre an manchen Stellen ein Rückblick auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hilfreich gewesen – insbesondere, was das vielfach im Comic beschriebene Spannungsverhältnis zwischen religiöser Politik und Laizismus in der Türkei betrifft. 

Interessant wäre zu sehen, wie das Duo Dündar und Anwar die vergangenen 20 Jahre Türkei unter Erdoğan aufarbeitet. Das aber ist möglicherweise Stoff für den nächsten Band, den Anwar im Vorwort des Comics ankündigt. 

Can Dündar, Mohamed Anwar: „Erdoğan“. Übersetzung: Sabine Adatepe. Özgürüz Press, 2. Auflage Januar 2022, 320 Seiten.

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