DOK Leipzig: Kunst des sozialen Wandels

Nasim mit einem ihrer Söhne im gleichnamigen Film von Ole Jacobs und Arne Büttner. Der Film wurde mit dem ver.di-Preis für Solidarität, Menschlichkeit und Fairness ausgezeichnet. Foto: DOK Leipzig 2021

Mit Themen wie Flucht, Migration und postkoloniale Perspektiven legte DOK Leipzig auch in seiner 64. Ausgabe 2021 den Fokus auf politische und künstlerische Filme. Ein kleiner Streifzug durch das Programm des renommierten Dokumentarfilmfestivals, das angesichts von 162 Filme aus 51 Ländern der immer wiederkehrenden Frage nachgeht, wie Filme mehr gesellschaftlichen Impact leisten können.

Vermutlich würden die meisten Dokumentarfilmmacher*innen auf die Frage, ob sie mit ihren Filmen einen gesellschaftlichen Beitrag leisten möchten, mit einem überzeugten „Ja“ antworten. Ein idealtypisches Beispiel liefert dafür „Nasim“ von Ole Jacobs und Arne Büttner (Deutschland 2021) mit einem empathischen Porträt über die titelgebende Nasim, die im Flüchtlingscamp von Moria ihre Würde bewahren möchte. Dafür wurden Jacobs und Büttner sowohl mit dem ver.di-Preis für Solidarität, Menschlichkeit und Fairness als auch mit dem DEFA-Förderpreis ausgezeichnet.

Die ver.di-Jury: Milan Schnieder (l.), Carmen Salas und Martin Klindtworth.
Foto: DOK Leipzig 2021

„Der Film lässt mit seiner behutsamen und emphatischen Erzählweise mit seiner Protagonistin mitfühlen. Die Zuschauer*innen erleben den Mut, die Verzweiflung und Solidarität einer emanzipierten Frau und fürsorglichen Mutter. Trotz des entbehrungsreichen Alltags im Geflüchtetenlager Moria auf der griechischen Insel Lesbos gibt sie den Kampf um eine Zukunft für sich und ihre Familie nicht auf“, heißt es in der Begründung der ver.di-Jury. Das Leben von Nasim stehe stellvertretend für das vieler Asylsuchender und Migrant*innen, die unter menschenunwürdigen Bedingungen innerhalb der EU-Grenzen ausharren und weder vor noch zurück können. Zustände, für die auch von Europäer*innen gewählte politische Vertreter*innen verantwortlich seien.

Zielsetzung für den Impact

In der Industrie-Sektion des Festivals behandelte eine eigene Gesprächsrunde „Impact Producing“. Solche Ansätze gibt es immer wieder, neu daher wohl vor allem der Begriff. „Impact Producing ist Aktivismus“, sagte Producerin Khadidia Benoutataf (Impact Social Club): „Es ist die Kunst des sozialen Wandels.“ Ganz konkret entstehen Partnerschaften, zum Beispiel mit NGOs, Stiftungen oder Firmen, um damit dann eben den Impact herzustellen bzw. zu vergrößern. Aber wie lässt sich so etwas messen? „Das ist sehr abhängig von den Zielen“, erklärte Benoutataf: „Wenn mit dem Film die Verabschiedung eines Gesetzes erreicht werden soll, ist klar messbar, ob dies erfolgreich war. Wenn wir ein gesellschaftliches Bewusstsein verändern wollen, können wir messen, wie die Debatte vor und nach Herausbringung des Films aussieht!“

„Impact Producer können auch Teil des Filmteams sein“, beschreibt Vivian Schröder, u.a. tätig für Good Pitch, ihre Aufgabe: „Aber du musst den Film auch als Produkt sehen, das es zu verkaufen gilt. Und für die meisten Filmemacher*innen hört sich das grauenvoll an.“ Im Idealfall entwickeln Regie, Produktion, Vertrieb, mögliche Partner aber auch die Protagonist*innen dieses Ziel gemeinsam, erzählte Elisa May (Agentur „Kern des Ganzen“): „Meist kommen wir mit unserer Expertise erst hinzu, wenn der Film fertig ist. Eigentlich würde ich es dann nicht mehr Impact Kampagne nennen, sondern vielmehr kooperatives Marketing. Wir bauen dann Netzwerke um den Film herum auf.“ Und manchmal gäbe es zwar ein Konzept, erzählte Schröder, dann entspreche der Film aber nicht den Erwartungen: „Der Film muss auch wirklich überzeugen, um das anvisierte Publikum erreichen zu können.“

Aktivistischer Antrieb führte zu „Nasim“

Und manchmal, wie im Fall des ver.di-Preisträgerfilms „Nasim“, müssen Dokumentarfilmmacher*innen auch einfach loslegen. Der Film entstand mit Hilfe von Geldern der Rosa-Luxemburg-Stiftung und des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Dennoch gebe es bislang noch kein konkretes Auswertungskonzept, sagt Jacobs im Nachgang des Festivals: „Das war aus Zeitgründen leider gar nicht möglich“. Eigentlich sind die beiden Regisseure im Frühjahr 2020 aus aktivistischen Antrieb nach Lesbos gekommen: Doch dann trafen sie auf ihre Protagonistin Nasim und schnell wurde klar, dass sie mehr Zeit dort verbringen müssen, um deren Geschichte gerecht zu werden. Insgesamt blieben Jacobs und Büttner zehn Monate.

Aktivismus und Filmemachen widersprechen sich für Jacobs nicht: „Es ist okay, eine Haltung zu haben. Wir fühlen natürlich mit, aber das bedeutet nicht, dass dies nicht eine Form von Wahrheit ist. Es ist ja nicht so, als hätten wir den Film alleine gemacht. Wir haben den Film mit ihr gemeinsam gemacht.“ Der Film beeindruckt eben genau deswegen, weil spürbar ist, dass Nasim ihre Geschichte erzählen will.

Katastrophe für die Pressefreiheit

Daher ist es politisch wie inhaltlich konsequent, was Jacobs über „Nasim“ sagt: „Wir haben diesen Film gemacht, um Nasim in ihrer Situation die Bühne zu geben.“ Es gibt aber auch eine Geschichte zu den Dreharbeiten selbst, die zeigt, wie sehr die Pressefreiheit gerade an den EU-Außengrenzen mittlerweile bedroht ist. „Vermutlich konnte mit ‚Nasim‘ überhaupt das letzte Mal so ein Film gemacht werden“, betonte Jacobs. Schon während der Dreharbeiten verhaftete die griechische Polizei die beiden Regisseure mehrfach und verhörte sie. „Ein Presseausweis zählte nichts!“, berichtete Jacobs. „Wir konnten überhaupt nur drehen, weil das Lager über die Mauern hinausgewachsen war.“ Nach dem Brand von Moria und mit dem Bau des neuen Flüchtlingscamps wurden die Regeln durch die Behörden nochmal verschärft. „Presse, Medienschaffende und Dokumentarfilmschaffende können in dieses Camp keinen Fuß mehr hineinsetzen“, sagt Jacobs. Kolleg*innen seien fälschlicherweise des Menschenhandels bezichtigt worden. Selbst Fotos von NGO-Mitarbeitenden würden illegalisiert, so der Regisseur. „Das ist eine Katastrophe, wie sehr staatliche Willkür in die Pressefreiheit eingreift.“

Szene aus „Words of Negroes“ von Sylvaine Dampierre
Foto: DOK Leipzig 2021

„Wir waren diese Sklaven!“

Im internationalen Wettbewerb wurde der Film „Words of Negroes“ von Sylvaine Dampierre mit dem Preis der Internationalen Filmkritik ausgezeichnet. Wie bei „Nasim“ besticht er ebenfalls durch eine starke Mitwirkung der Protagonist*innen. Die Regisseurin lässt schwarze Arbeiter einer alten Zuckerfabrik auf Guadeloupe Passagen aus den Protokollen eines Gerichtsprozesses von 1842 verlesen, während im Hintergrund die Maschinen tosen und ächzen. „Wir waren diese Sklaven“, kommentiert einer von ihnen im Verlauf des Films. „Sie wussten ganz genau, um welche Themen es hier geht“, sagte Dampierre bei einer Gesprächsrunde zum Festival über die Dekonstruktion von kolonialen Bildern. Die Gerichtsprotokolle sind auf Französisch verfasst, im Film erleben wir mit, wie die Arbeiter die Dissonanz darin erkennen und beschließen, dass sie die Texte auf Kreolisch übersetzen und vortragen wollen. Selbstermächtigung zeigt sich für die – ebenfalls schwarze – Regisseurin auch im Titel „Paroles de nègres“, der das N-Wort verwendet. „Dieses kreolische Wort beanspruchen sie für sich selbst. Und es bedeutet, als aufrechter schwarzer Mann sich zur eigenen Geschichte zu positionieren.“ Selbst benutzt Dampierre das Wort sonst nicht und hofft auch, dass andere es nicht benutzen, sagte sie beim Festival. Dass sich die Festivallandschaft mittlerweile auch immer mehr Gedanken macht, wer spricht und in welcher Funktion, ist also generell ein wichtiger Schritt. Sehr beachtenswert sind auch die beiden Kurzdokumentarfilme „Tellurian Drama“ von Riar Rizaldi (Indonesien 2020) und „To Pick a Flower“ von Shireen Seno (Philippinen 2021), deren Macher*innen zusammen mit Dampierre in der Gesprächsrunde des Festivals über „Deconstructing the Image“ diskutierten.

Noch zwei Wochen zum Nachgucken im Stream

Das Festival fand 2021 nicht mehr als komplette Hybridversion wie im letzten Jahr statt, einen Teil der Veranstaltungen und Filme gab es aber dennoch online. Bis zum 14. November sind 71 Filme online zugänglich, das Angebot umfasst vor allem den Großteil der Wettbewerbsbeiträge sowie den Eröffnungsfilm. Tickets gibt es als Dauerkarte für das komplette Angebot oder als Einzelkarten.

 

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

„Das Problem mit der Leidenschaft“

Lena Hipp ist Professorin für Soziologie an der Universität Potsdam und leitet die Forschungsgruppe „Arbeit und Fürsorge“ am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Mit M sprach sie über „Gute Arbeit“, Stressoren im Journalismus und weshalb die Trennung von Arbeit und Privatleben für Medienschaffende so wichtig ist.
mehr »

Fünfter Streik beim Bundesanzeiger

Mit rund 130 Millionen Euro Jahresumsatz und einer stattlichen Gewinnmarge von 18 bis 20 Millionen Euro ist der Bundesanzeiger Verlag die Cash Cow der DuMont Verlagsgruppe. Doch der Verlag verweigert Tarifverhandlungen. Dabei, so formuliert es Bundesanzeiger-Betriebsrat Gerhard Treinen, befindet sich ein großer Teil der rund 560 Beschäftigten und der bis zu 280 Leiharbeitenden in prekären Arbeitsverhältnissen. Daher hat ver.di jetzt zum fünften Mal in diesem Jahr zu einem Warnstreik aufgerufen. Rund 100 Streikende hatten sich dann auch vor dem DuMont Gebäude in Köln versammelt und verliehen ihrem Unmut hörbar Ausdruck als sie „Tarifvertrag jetzt“ skandierten. „Ich habe…
mehr »

Dreyeckland-Journalist wegen Link angeklagt

Am 18. April beginnt der Prozess gegen den Journalisten Fabian Kienert. Dem Mitarbeiter von Radio Dreyeckland in Freiburg wird die Unterstützung einer verbotenen Vereinigung vorgeworfen, weil er das Archiv eines Onlineportals in einem Artikel verlinkt hat. Das Portal mit Open-Posting-Prinzip war von Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) 2017 als kriminelle Vereinigung verboten worden.
mehr »

Türkische Presse im Visier der Justiz

Der Journalist Nedim Türfent berichtet über die Situation von Medienschaffenden in der Türkei. Sein Film "Ihr werdet die Macht der Türken spüren!" über die schikanöse Behandlung kurdischer Bauarbeiter erregte große Aufmerksamkeit und brachte ihm 2015 einen Journalistenpreis ein - und 2016 seine Verhaftung. Er wurde gefoltert und zu acht Jahren und neun Monaten Gefängnis verurteilt. Die meiste Zeit davon verbrachte er im Hochsicherheitsgefängnis in der östlichen Stadt Van. Türfent wurde am 29. November 2022 nach sechs Jahren und sieben Monaten Haft entlassen. Schon wenige Monate später arbeitete er wieder als Journalist. Zurzeit nimmt er an einem Stipendium für bedrohte…
mehr »