Entlang der roten Linien in China

China: Journalisten filmen nach der Eröffnungsfeier eines temporären nationalen Sicherheitsbüros in Hongkong am 8. Juli 2020 hinter wassergefüllten Barrieren. Foto: REUTERS/Tyrone Siu

Neun Jahre lebte und arbeitete der freie Journalist und Autor Marcel Grzanna mit seiner Frau Pia Schrörs als freier Auslandskorrespondent in China. Die dabei gewonnenen Eindrücke hat er soeben in einem lesenswerten Buch veröffentlicht: „Eine Gesellschaft in Unfreiheit. Ein Insiderbericht aus China, dem größten Überwachungsstaat der Welt“. M sprach mit dem Autor über seine Erfahrungen beim Arbeiten entlang der „roten Linien“.

M | Kürzlich hat der Südwestrundfunk die Dokumentation „Wuhan – Chronik eines Ausbruchs“ aus dem ARD-Programm zurückgezogen. Offizielle Begründung: vermeintliche Rechteprobleme. Tatsächlich gab es harte Kritik wegen des Einsatzes von Material der staatlichen chinesischen Produktionsfirma CICC (China Intercontinental Communications Center). Was halten Sie davon?

Marcel Grzanna | Den Film habe ich selbst nicht gesehen. Die Entscheidung, ihn aus dem ARD-Programm zu nehmen, war aber sicher richtig. Basiert auf diesem Material einen Film über China zu senden, wäre ein fatales Signal. Genau das wollen die Chinesen: dass ihre Geschichte mit ihrem Material erzählt wird. Das mag dann gelegentlich kritisch aussehen und verschleiert sicher nicht, dass es da auch Probleme gab. Aber unter dem Strich wird das Ganze erzählt aus der Perspektive des Regimes, und da ist kein Bild dem Zufall überlassen.

In einem Krankenhaus in Wuhan. Fotoausschnitt aus dem zurückgezogenen Dokumentarfilm des SWR „Wuhan – Chronik eines Ausbruchs“. Die Filmaufnahmen hat das China Intercontinental Communications Center (CICC) im Frühjahr 2020 zur Verfügung gestellt. Foto: SWR/CICC

Wie beurteilen Sie den Umgang chinesischer Behörden und Medien mit der Pandemie?

Die Medien hängen am Tropf der Regierung. Sie unterliegen einer strengen Zensur, wenn es staatliche Medien sind. Es gibt private Medien, die immer mal wieder Nadelstiche setzen und mit ihren Recherchen und einer ganz feinen Rhetorik versuchen, ein bisschen die Grenzen dessen, was man berichten darf, auszutesten. Es gibt zwei Wirtschaftsmagazine, „Caijing“ und „Caixin“, die das sehr gut machen. Ansonsten ist der Umgang der Behörden ein klassisches diktatorisches Verhalten: Verschleierung, Verschleppung, schlechte Nachrichten in der Disziplinarkette nach oben vermeiden. Man möchte gern den Eindruck vermitteln, dass man alles im Griff hat. Man gibt beispielsweise auf Anfrage von Medizinern aus Taiwan oder Hongkong keine Auskünfte. Die WHO wird lange Zeit im Unklaren gelassen. Dass es sich hier möglicherweise um eine Mensch-zu-Mensch-Übertragung des Virus handelt, wurde sehr lange verheimlicht. Durch Kompetenzstreitigkeiten ging viel Zeit verloren. Am Ende leidet nicht nur die chinesische Bevölkerung darunter, sondern der Rest der Welt unter einer Pandemie, die mit voller Wucht einschlägt.

Anfang 2020 gab es den Versuch Pekings, mithilfe deutscher Journalisten ein deutschsprachiges Informations-Portal zu China-Themen aufzubauen: „China-Brücke e.V.“ Haben sich die Kolleg*innen zum Werkzeug einer chinesischen Propaganda-Offensive instrumentalisieren lassen?

Nach meiner Wahrnehmung ist es das. Der Verein betont immer wieder den Dialog, den man da mitinitiieren möchte. Aber meines Erachtens haben wir Dialogforen genug zwischen Deutschland und China. Ich glaube, wir brauchen keine weiteren Foren, solange in den bereits existierenden nicht substantielle Ergebnisse erzielt werden. Welche Beweggründe die Kollegen dabei haben, das kann ich nicht beurteilen. Ich habe lange genug in China gelebt, um am eigenen Leib zu erfahren, dass das, was die Regierung in China vermittelt oder verlautbart, sehr selten mit dem wahren Leben zu tun hat. Der neue Verein hat ja jetzt auch eine erste Stellungnahme zum Thema Corona und dem Umgang der chinesischen Regierung mit Corona abgegeben: Zum jetzigen Zeitpunkt könne man keine großen Fehler feststellen. Das ist schon ein Indiz für eine bestimmte Tendenz. Die Chinesen haben da großen Mist gebaut. Und wenn man sowas nicht ansprechen kann, hat so ein Verein auch keine Daseinsberechtigung.

Bei der Arbeit der Medien in China, so konstatieren Sie, handle es sich nicht um Journalismus, sondern schlicht um Öffentlichkeitsarbeit zugunsten des Staates. Wirklich?

Absolut. Staatspräsident Xi Jinping hat vor ein paar Jahren gesagt, dass er die Journalisten auffordert, im Sinne der Partei zu berichten. Das ist nichts Neues, wurde aber in jüngster Zeit nochmal verschärft. Grundsätzlich sind die staatlichen Medien natürlich keine Medien, wie wir sie kennen. Texte von Redakteuren werden noch von zehn Augenpaaren begutachtet, gegengecheckt, verwässert, entschärft. Und zum Schluss ist aus dem, was möglicherweise ein engagierter junger Kollege oder eine Kollegin berichten wollte, pure Staatspropaganda geworden. Das ist seit Jahrzehnten so, und solange die KP über das Machtmonopol verfügt, wird sich daran nichts ändern.

Gibt es Ausnahmen? Wo sehen Sie Freiräume? In den sozialen Medien?

Die sozialen Medien sind sicherlich eine Kraft, die Lücken ausfüllen könnten. Nach diversen Katastrophen haben die Menschen über soziale Medien viele Fragen gestellt, was für die Regierenden sehr unangenehm war. In der Regel reagiert die Zensur darauf sehr schnell. Nach dem Tod des Arztes Li Wenliang, der als Whistleblower die Pandemie-Gefahr Ende Dezember 2019 öffentlich gemacht hat, gab es aufgebrachte Reaktionen im Netz. Und zwar so zahlreich, dass man sich fragte: Nanu, wo sind denn die Zensoren? Wegen des Neujahrsfestes waren die Behörden damals wohl personell komplett unterbesetzt, sodass sich diese Welle aus Wut und Protest in den sozialen Medien spiegelte. Meist aber geht der Staat sofort dazwischen.

Marcel Grzanna Foto: privat

Welche Rolle spielen andere Medien, investigativer Journalismus?

Es gibt private Medien, Zeitungen, Magazine, wo exzellente investigative Journalisten arbeiten. Die mit sehr viel Mut, Engagement und dem nötigen Biss versuchen, Dinge in China aufzudecken, die eigentlich nicht an die Oberfläche kommen sollen. Si nutzen eine Rhetorik, die sich haarscharf an der Linie dessen bewegt, was möglicherweise drastische Konsequenzen in Form von Strafen, sogar Haftstrafen nach sich ziehen könnte. Dennoch gibt es natürlich entsprechende Reaktionen der Zensurbehörde. Aber es gab in den letzten Jahren auch eine Reihe investigativer Journalisten, die resignierten. Die sagten: Wir geben auf, es ergibt keinen Sinn mehr, wir haben keine Foren mehr, um der Zensur zu entgehen. All das ist unter Xi Jinping nochmal viel autoritärer geworden als unter seinem Vorgänger Hu Jintao. Die Tendenz geht dahin, dass da immer weniger Spielraum bleibt, sowohl für Journalisten als auch für Bürgerreporter.

Sie berichteten über viele Missstände, beispielsweise über Zwangsabrisse in Peking im Rahmen der städtischen Erneuerung oder den Zusammenhang zwischen Luftverschmutzung und Herzversagen. Sind ausländische Medien oft die letzte Hoffnung der Betroffenen, das Auge der Weltöffentlichkeit auf Skandale zu richten?

Wir haben schon immer wieder festgestellt, dass die Leute in uns einen Anker sehen und die Hoffnung haben, dass wir ihnen helfen könnten. Jedoch haben wir ihnen gesagt, wir können euch nicht helfen, wenn wir einen Bericht machen in einer deutschen Zeitung oder im deutschen Fernsehen, dann wird sich für euch in der Regel nichts ändern. Aber es geht darum, eine Wahrnehmung im Westen für die Probleme in China, in der Politik, in der Wirtschaft zu schaffen. Als ausländischer Reporter genießen wir natürlich ein Privileg. Wir sind ganz entscheidend sicherer als die chinesischen Kollegen. Ein chinesischer Kollege geht für eine Arbeit, wie wir sie machen, möglicherweise sofort ins Gefängnis.

Welche Themen waren für Sie tabu?  Tibet, Taiwan, Korruption?

Wir haben prinzipiell alles gemacht. Aber es gab Grenzen, praktische Hindernisse. Nach Tibet zu kommen war einfach nicht möglich. Wir haben versucht, zumindest mal in die tibetischen Siedlungsgebiete in Sichuan zu reisen. Keine Chance, da stehen Sie vor einer Wand von Soldaten oder Polizei, die sagen, bitte schön, umdrehen. Ein Thema, das die Behörden fürchten, weil sie die Kraft des Glaubens fürchten, ist die Religion. Wenn Menschen eher an die Religion glauben als an die KP, ist das ein Gefahrenpotential für das Machtmonopol der Partei. Und entsprechend wurde die Berichterstattung darüber massiv behindert.

Nach einem Bericht über ein Dorf mit vielen HIV-Infizierten fühlten Sie sich „in die Mühlen von Politik und ökonomischen Interessen geraten“. Worum ging es?

Da ging es um ein „AIDS-Dorf“, das von dem damaligen Premierminister Wen Jiabao besucht wurde, um medienwirksam mit AIDS-Kranken zu sprechen, sich nach ihrem Befinden und ihrer Behandlung durch Behörden zu erkundigen. Den lokalen Behörden war das nicht recht, weil sie sich tatsächlich wenig kümmerten. Also sperrte man die Betroffenen weg und konfrontierte den Premier mit Leuten aus den eigenen Reihen, die natürlich sagten: Uns geht es blendend, wir werden optimal versorgt, wir sind die glücklichsten HIV-Kranken der Welt. Sie merken meinen Zynismus. Diese Geschichte hat uns ziemlich erschüttert. Sie war wasserdicht, hat so ähnlich auch im britischen „Guardian“ gestanden. Der Premierminister wurde damals von seinen eigenen Leuten in der Provinz verschaukelt.

Welche Konsequenzen hatte der Bericht für Sie?

Damals standen die Olympischen Spiele in Peking vor der Tür. Unsere Veröffentlichung war den Behörden ein großer Dorn im Auge. Uns wurde mit dem Entzug der Akkreditierung gedroht. In der Folge haben sich meine Auftraggeber AFP und der Sport-Informationsdienst (sid) von mir distanziert und getrennt. Glücklicherweise gelang es mir, einen Korrespondentenvertrag bei der „Aachener Zeitung“ zu bekommen, sodass ich im Land bleiben konnte. Meine Erkenntnis damals: Eine Olympia-Akkreditierung ist offenbar wertvoller als der Wahrheitsgehalt einer investigativen Geschichte. Wenn du über solche Sachen berichtest, dann stehst du auch relativ schnell allein, weil wirtschaftliche Interessen die Verlage dazu bewegen, wirtschaftliche Entscheidungen zu treffen. Und da opfert man dann lieber mal einen freien Journalisten, der gelegentlich einen Text liefert als die eigene Olympia-Berichterstattung zu gefährden.

Sie schreiben in ihrem Buch: „China, der zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt, Vorwürfe zu machen, fällt manchen ausländischen Regierungen und vielen Wirtschaftsbossen extrem schwer.“ Gilt das auch für die Bundesregierung und hiesige Konzerne?

Definitiv. Zuletzt hat mich Frau Merkel überrascht, als sie China als kleineres Übel gegenüber den USA unter Donald Trump bezeichnet hat. Grundsätzlich war ich von Angela Merkel – immer wenn sie in China war – beeindruckt, weil sie eben anders als andere europäische Staatschefs und auch andere deutsche Politiker die Missachtung von Bürgerrechten in China klar und scharf kritisiert hat.

Was die Industrie angeht: Viele glauben, dass sie am Tropf von China hängt. Der China-Chef eines deutschen Autobauers gestand mir einmal, dass er das Land durch Statistiken und Zahlen sieht und dadurch einen viel positiveren Blick auf China hat als wir Journalisten, die wir uns ständig an den roten Linien dieses Landes entlang bewegen. Ein bemerkenswertes Zugeständnis, wie ich fand. Eigeninteresse verklärt oft die Sicht auf die Dinge.

Wer aus Ländern wie China berichtet, handelt sich gelegentlich den Vorwurf einseitiger, überwiegend negativer Berichterstattung ein. Was entgegnen Sie Menschen, die Ihnen übertriebenes „China-Bashing“ unterstellen?

Wir haben uns oft mit der Frage auseinandergesetzt: Wie objektiv sind wir eigentlich? Wir wollten schon den Eindruck vermeiden, China-Bashing zu betreiben. Man kann in China in einer Blase leben, die einem das Gefühl vermittelt, das Land sei eigentlich gar nicht so schlimm, es lebe sich eigentlich gar nicht so dramatisch in einer Diktatur. Wenn man keinen Zugang hat zu den Konsequenzen, die ein solches Regime für die Bevölkerung bedeutet, während die chinesische Presse viel wohlwollender über das Land berichtet, dann wirkt das auf einen. Ich glaube schon, dass die Menschen von dieser sehr subtilen und massiven Propaganda beeinflusst sind. Daraus zogen manche den Schluss, unsere Berichterstattung sei nur Bashing, nur negativ. Wenn man das als Journalist immer wieder erlebt, verfestigt sich der Eindruck, dass das Ganze System hat und Missstände nicht nur Ausnahmen sind.

 

Marcel Grzanna:  Eine Gesellschaft in Unfreiheit. Ein Insiderbericht aus China, dem größten Überwachungsstaat der Welt. Goldmann, München 2020, 320 Seiten, 15 Euro.

 

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

„Das Problem mit der Leidenschaft“

Lena Hipp ist Professorin für Soziologie an der Universität Potsdam und leitet die Forschungsgruppe „Arbeit und Fürsorge“ am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Mit M sprach sie über „Gute Arbeit“, Stressoren im Journalismus und weshalb die Trennung von Arbeit und Privatleben für Medienschaffende so wichtig ist.
mehr »

Dreyeckland-Journalist wegen Link angeklagt

Am 18. April beginnt der Prozess gegen den Journalisten Fabian Kienert. Dem Mitarbeiter von Radio Dreyeckland in Freiburg wird die Unterstützung einer verbotenen Vereinigung vorgeworfen, weil er das Archiv eines Onlineportals in einem Artikel verlinkt hat. Das Portal mit Open-Posting-Prinzip war von Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) 2017 als kriminelle Vereinigung verboten worden.
mehr »

Türkische Presse im Visier der Justiz

Der Journalist Nedim Türfent berichtet über die Situation von Medienschaffenden in der Türkei. Sein Film "Ihr werdet die Macht der Türken spüren!" über die schikanöse Behandlung kurdischer Bauarbeiter erregte große Aufmerksamkeit und brachte ihm 2015 einen Journalistenpreis ein - und 2016 seine Verhaftung. Er wurde gefoltert und zu acht Jahren und neun Monaten Gefängnis verurteilt. Die meiste Zeit davon verbrachte er im Hochsicherheitsgefängnis in der östlichen Stadt Van. Türfent wurde am 29. November 2022 nach sechs Jahren und sieben Monaten Haft entlassen. Schon wenige Monate später arbeitete er wieder als Journalist. Zurzeit nimmt er an einem Stipendium für bedrohte…
mehr »

Die Verantwortung der Redaktionen

Auf die mentale Gesundheit zu achten, ist keine individuelle Aufgabe. Auch Arbeitgeber*innen können und sollten etwas für psychische Gesundheit ihrer Mitarbeiter*innen tun. Wie funktioniert das in einer Branche, die so geprägt ist von Zeit und Leistungsdruck und belastenden Inhalten wie der Journalismus? Wir haben uns in zwei Redaktionen umgehört, die sich dazu Gedanken gemacht haben: das Magazin Neue Narrative und der Schleswig-Holsteinische Zeitungsverlag (SHZ).
mehr »