Keine Lückenbüßer

Sabine Rollberg kann auf eine lange Karriere als Redakteurin im WDR verweisen. Zunächst als Journalistin für Weltspiegel und Kulturweltspiegel im Ausland unterwegs, wandte sich ihre Aufmerksamkeit dem Dokumentarfilm zu. Sie war drei Jahre als Arte-Chefredakteurin in Strasbourg, seit 2008 Redaktionsleiterin WDR / Arte. In dieser Position war sie Geburtshelferin vieler Dokumentarfilme, die dem Sender eine stattliche Anzahl von Preisen einbrachten. Seit 2008 ist sie auch als Professorin an der Kunsthochschule für Medien in Köln tätig. Foto: WDR

Sabine Rollberg: Dokumentarfilme sollten den Hunger nach mehr Wissen stillen

M | Das Fernsehen finanziert über weite Strecken den Dokumentarfilm, liebt ihn aber nicht. Warum dieses gestörte Verhältnis?

Sabine Rollberg | Das Traurige ist, dass die meisten Dokumentarfilme die Finanzierung des Fernsehens brauchen. Auch die sonstigen Finanzierungsquellen sind daran gebunden. In Deutschland verlangt die Filmförderung, dass man einen Letter of intent, also die Absichtserklärung einer Fernsehanstalt, mitbringt. Insofern verengt sich der Kreis. Man kann Dokumentarfilm sicherlich auch frei finanzieren, wenn man reicher Erbe ist oder wenn man eine Stiftung findet oder über Crowdfunding.

Das geht. Aber damit sind nicht die großen, wichtigen relevanten Themen abgedeckt, die im Dokumentarfilm gespiegelt, zusammengefasst, analysiert, beobachtet und auf den Punkt gebracht werden. Dokumentarfilm ist für unsere Demokratie ein wichtiges Medium. Um Sachverhalte klar zu machen. Um Menschen an fremde Orte zu bringen, damit sie sich ein Bild machen können. Damit sie sich ein eigenes Urteil über das Fremde, das Andere bilden können. Dafür braucht man den Dokumentarfilm. Deshalb ist es auch eine wichtige gesellschaftspolitische Aufgabe, dass öffentlich-rechtliches Fernsehen diese Filmform pflegen muss.

Aber das Fernsehen hält sich weitgehend raus und hat den Dokumentarfilm an die Ränder des Programms gedrängt.

Ich glaube, man wird dazu kommen müssen, die Filmförderung ganz vom Fernsehen loszukoppeln, so dass Filmemacher nicht obligatorisch eine Fernsehredak­tion vorweisen müssen. Es muss mehr freie Förderung geben. Das ist auch nötig, wenn das Fernsehen nicht aufwacht. Mir ist ja inzwischen egal, ob Filme um Mitternacht gesendet werden, man findet sie ja hinterher in der Mediathek. Aber sie müssen halt gesendet werden. Und es kann nicht sein, dass der große Dokumentarfilm in der ARD nur im Sommer während der Talkshowpause läuft. Damit entwertet man ein Genre und missachtet es. Dokumentarfilme sind keine Lückenbüßer.

Aber bei aller Kritik, es ist dann doch immer noch das Fernsehen, das den Dokumentarfilmen ein größeres Publikum bringt.

Ja, aber es hängt nicht von einer Ausstrahlung ab. Dokumentarfilme haben sowieso ein langes nachhaltiges Leben. Sie spielen oft in der Bildungsarbeit, in der politischen Arbeit eine wichtige Rolle.

Wie tragfähig ist diese Nachhaltigkeit? In den Medien triumphiert das Echtzeitbild. Und dann kommt der Dokumentarfilm und braucht Zeit. Zeit zum Drehen, Zeit für den Schnitt. Wie soll das zusammengehen?

Das weiß ich auch nicht. Die Entwicklung macht mich auch ein bisschen besorgt. Aber sie macht mich nicht pessimistisch. Sicher haben wir die Bilderflut, Menschen betäuben sich damit oder liefern sich dem Voyeurismus aus. Aber ich bin sehr zuversichtlich, dass es in dieser großen Unübersichtlichkeit weiterhin ein großes Bedürfnis nach Sinn geben wird. Dokumentarfilm kann es eben leisten, die Dinge mit Nachdenklichkeit und mit einer gewissen zeitlichen Distanz nochmal anzuschauen. Und wird dabei vielleicht etwas wahrnehmen, was sich in der aktuellen Abbildung nicht erschließt. Ich glaube, dass es gerade in der jungen Generation großen Hunger danach gibt, mehr über die Welt zu wissen als der aktuelle Journalismus ermöglicht.

Woher nehmen Sie Ihren Optimismus?

Ich beobachte das an jüngeren Studierenden. Ich habe auch einen interessanten Versuch in Frankreich gesehen, wo in den unseren Hauptschulen vergleichbaren Schulen 14–16-Jährige mit politischen Dokumentarfilmen, in diesem Fall über den Südsudan, konfrontiert wurden. Und sie ließen sich begeistern und wurden selbst politisch aktiv. Das ist ein kleiner Hoffnungsschimmer. Deshalb halte ich so am Dokumentarfilm fest, weil ich erlebt und gesehen habe, dass er bei Menschen etwas auslöst und sie in ihrem Denken und in ihrem Tun verändert. Indem er Brücken des Verständnisses zu anderen Menschen baut.

Ich sehe derzeit eine Tendenz: wir sehen viele Dokumentarfilme, die sich mit Künstler_innen befassen und nur wenige, die sich für soziale Realität interessieren. Lässt sich diese Beobachtung bestätigen?

Ich habe selbst mit Studierenden ein Seminar gemacht über Künstler in Dokumentarfilmen. Diese Tendenz gibt es und es freut mich, weil ich Kunst für einen Seismographen der Gesellschaft halte. Aber es gibt ein starkes Augenmerk auf bekannte Künstler. Würde ich einen unbekannten Schriftsteller porträtieren wollen, würde ich damit in Redaktionen keinen Blumentopf gewinnen. Das Thema würde ich nicht loskriegen. Mit bekannten Protagonisten geht es viel leichter. Das ist leider inzwischen auch bei Arte so. Es gibt kein Interesse mehr an der Avantgarde. In den Sendern sagen alle, die Zuschauer würden nur auf Bekanntes reagieren. Und das finde ich falsch. Wir sind dazu da, neue Horizonte aufzumachen und nicht Menschen in dem zu bestätigen, was sie ohnehin wissen. Wer auf Quote geht, geht auf den Reflex des Wiedererkennbaren ein. Das widerspricht der Neugier der Menschen.

Dokumentarfilme sind heute formal sehr viel­fältig, benutzen verschiedene Erzähltechniken, setzen unterschiedliche filmische Mittel ein wie etwa auch Animation. Wo geht die Reise hin, was das Erzählerische und das Ästhetische angeht?

Wenn ich das wüsste. Ich kann nur sagen, was ich spüre. Es wird künftig nicht mehr ganz so stark getrennt werden zwischen Fiktionalem und Dokumentarischem. Es kommen auch neue Erzählungen im Web dazu, die die Menschen beteiligen und aktivieren. Das wird ineinander fließen. Es wird darauf ankommen, ob ein Film wahrheitsgemäß erzählt und authentisch ist – ein abgegriffenes Wort, das ich auch nicht recht erklären kann. Ein Stoff muss bestmöglich recherchiert sein, sicherlich. Aber wie eine Geschichte erzählt wird, das wird egal sein. Es wird mehr darauf ankommen, wie etwas umgesetzt ist. Schlechte Filmarbeit merken die Menschen sofort, auch einen Fake. Die Zuschauer spüren, wenn sie nicht ernst genommen werden. Es wird darauf ankommen, wie ehrlich und aufrichtig eine Geschichte erzählt ist. Dabei muss klar sein, ob etwas erfunden ist oder in der Wirklichkeit vorgefunden wurde. Man muss ja auch erzählen, wie etwas hätte sein können. Die Autoren müssen jedenfalls ihre Haltung klarstellen, das ist der Schlüssel.

Wann haben Sie den Dokumentarfilm für sich entdeckt?

Ich war eine leidenschaftliche Journalistin. Dokumentarfilme habe ich zunächst nur so aus den Augenwinkeln wahrgenommen. Ich habe, wie viele Journalisten, nicht auf Bilder vertraut. Inzwischen habe ich an sehr vielen Dokumentarfilmen mitgewirkt, zahlreiche Filme haben Preise bekommen. Ich halte das für ein Geschenk in meinem Leben, dass ich dazu gekommen bin, dieses Genre zu entdecken und damit arbeiten zu dürfen. Ein ganz großes Geschenk. Und ich predige überall, wie wichtig der Dokumentarfilm ist.

 

 

 

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