Die Stimme erheben für Julian Assange

Initiative für die Freilassung des Wikileaks-Gründers

Tareq Haddad ist freier Journalist in London und hat das dortige Gerichtsverfahren zur Auslieferung Julian Assanges an die USA beobachtet. Auf seiner Website www.tareqhaddad.com dokumentiert er Papiere aus dem Prozess. Serena Tinari ist freie Journalistin in Bern. Sie arbeitet nicht nur für Schweizer Medien, sondern auch als Journalismustrainerin. Sie ist unter anderem Mitglied des International Consortium of Investigative Journalists und Vorsitzende des Schweizer Recherche-Netzwerks für Journalist*innen. Haddad und Tinari sind zwei von vier Mitgliedern der Initiative „Journalists Speak Up For Assange“ (Journalist*innen erheben die Stimme für Assange), die im Dezember 2019 eine Stellungnahme veröffentlichte, die nach eigenen Angaben von über 1700 Medienschaffenden aus 107 Ländern unterstützt wurde. M sprach mit beiden über die skandalöse Verfolgung und Behandlung des eingesperrten Wikileaks-Aktivisten Julian Assange.

M | Ihre Initiative besteht aus vier Menschen in verschiedenen Ländern. Wer hat sie begründet, wie arbeiten Sie?

Serena Tinari | Unsere Initiative wurde geboren, als mir bei der Konferenz des Globalen Netzwerks für Investigativen Journalismus im September 2019 in Hamburg klar wurde, dass es dort keinerlei Veranstaltung zu Assange gab. Ich schickte eine E-Mail an den Verteiler des Netzwerks und fragte, ob noch jemand mit dieser sehr überraschenden Stille ein Problem hatte und wütend über Assanges Notlage ist. Blaž Zgaga aus Slowenien und Nicky Hager aus Neuseeland meldeten sich. Dann starteten wir mit Hilfe vieler Kolleg*innen aus verschiedenen Ländern die Kampagne „Journalists Speak Up For Assange“. Kurz danach schloss sich Tareq Haddad der Koordinierungsgruppe an.

Serena Tinari, freie Journalistin in Bern
Foto: Karin Scheidegger

Seitdem sind wir ständig über sichere Kommunikationsmittel in Kontakt. Außer der Verwaltung des Internetauftritts und dem Ermutigen anderer Journalist*innen, mitzumachen, halten wir die Unterzeichnenden auf dem Laufenden über alle Entwicklungen und versorgen sie mit Berichtsmaterial aus erster Hand. Zudem arbeiten wir derzeit an einer Internetplattform, die als Online-Ressource zu Assanges Fall für alle Menschen, die mehr darüber wissen wollen, dienen wird. Der Grund dafür ist, dass es zwar viele Informationen darüber gibt, was in den letzten zehn Jahren um Assange und Wikileaks los war, aber sie sind verstreut, und nicht alle Quellen sind verlässlich. Es wurden auch Falschnachrichten veröffentlicht. Zurzeit fehlt Geld, um unsere Aktivitäten wirkungsvoller zu machen. Deshalb haben wir kürzlich ein Crowdfunding auf gofundme.com gestartet.

Was wird als nächstes im Gerichtsverfahren gegen Julian Assange passieren?

Tareq Haddad | Da Richterin Baraitser Assanges Auslieferung an die USA wegen seiner sich verschlechternden psychischen Gesundheit erst mal abgelehnt hat, haben die USA Widerspruch eingelegt. Er wird vom britischen Obersten Gerichtshof geprüft. Stella Moris, Anwältin und Lebenspartnerin von Assange, hat bestätigt, dass die Verteidigung nicht nur den Widerspruch angreifen wird, sondern eventuell auch einen eigenen Widerspruch gegen das Urteil einlegen wird. Die Verteidigung hat bis zum 29. März Zeit dafür.

Stimmt es, dass Assange seit April 2019 in einem Hochsicherheitsgefängnis in Einzelhaft lebt, und dass er seitdem seine Zelle nur an einer Stunde pro Tag verlassen kann?

Tinari | Ja, Assange war die meiste Zeit in Einzelhaft, mit Ausnahme mehrerer Wochen, in denen er im Gefängniskrankenhaus behandelt wurde. Es ist unklar, warum ein gewaltfreier Gefangener unter solchen Umständen gehalten wird. Klar ist aber, dass die Behandlung durch die globale Coronakrise noch schlimmer wurde. Alle Gefangenen sind seit März 2020 in ihren Zellen eingesperrt, sie müssen auch dort essen. Annehmlichkeiten wie Familienbesuche wurden abgeschafft, was Assanges psychische Gesundheit wahrscheinlich weiter verschlechterte. Aber unabhängig davon scheint Assange besonders harten Haftbedingungen ausgesetzt zu sein. Um seine Verteidigung vorzubereiten, was die Analyse vieler Tausend Seiten mit komplexer juristischer Materie bedeutet, hat er nur einen Laptop mit festgeklebten Tasten, der also nur zum Lesen da ist. Hinzu kommt, dass Winterkleidung, die seine Familie zum Gefängnis gebracht hatte, nicht übergeben worden war. Stella Moris hat berichtet, dass Assange in der eiskalten Zelle versucht hat, mit Büchern die Fenster zu isolieren. Als er sie und ihre gemeinsamen Kinder dann doch endlich treffen durfte, durfte er sie nicht berühren.

Es wird behauptet, Assange sei psychisch gefoltert worden. Worauf basiert das, und wie haben sich die britischen Behörden verhalten?

Haddad | Die Berichte, dass Assange psychischer Folter ausgesetzt wird, gehen auf Nils Melzer zurück, den UNO-Sonderberichterstatter für Folter und andere unmenschliche Behandlungen. Er besuchte Assange im Mai 2019 zusammen mit zwei medizinischen Fachleuten und stellte bei ihm Symptome wie starken Stress und Angstzustände fest – wie bei jemandem, der psychologischer Folter ausgesetzt ist. Trotz mehrerer Schreiben von Melzer und der UNO an britische Behörden hat es keine Antwort gegeben, oder gar ein Eingestehen dieser Symptome. Zudem hat die Gruppe „Doctors for Assange“ im Juni 2020 einen Offenen Brief in der Fachzeitschrift The Lancet veröffentlicht. Sein Titel: „Die anhaltende Folter und medizinische Vernachlässigung von Julian Assange“.

Tareq Haddad, freier Journalist in London

Assange wurde in der Botschaft von Ecuador von deren Überwachungskameras gefilmt, was ihm bekannt war. Er wusste allerdings nicht, dass ab einem bestimmten Zeitpunkt auch der Ton aufgenommen wurde. Wird dieses Material jetzt gegen ihn verwendet?

Haddad | Soweit wir wissen wurde illegal erhaltenes Material noch nicht in der Strafverfolgung gegen Assange verwendet. Allerdings wird vor einem spanischen Gericht über das Ausmaß der Ausspionierung in der Botschaft verhandelt. Das könnte auch mehr Aufschluss darüber geben, ob dieses Material für Assanges juristische Verfolgung genutzt wurde.

Der 48jährige ist angeklagt, weil er der Whistleblowerin Chesea Manning geholfen hat, geheimes Material von US-Militäreinsätzen im Irak und in Afghanistan zu veröffentlichen. Schon die Ermunterung zur Weitergabe wird als Verschwörung gewertet. Trevor Timm, Geschäftsführer der Pressefreiheitsstiftung (Freedom of the Press Foundation) in den USA, hat dazu vor Gericht ausgesagt: Es sei nicht ungewöhnlich, dass Journalist*innen und Menschenrechtsaktivist*innen sowohl die Öffentlichkeit als auch konkrete Personen dazu animieren, geheime Dokumente zu enthüllen, die im öffentlichen Interesse sind. Gehört das nicht zum investigativen Journalismus?

Tinari | Viele Medien auf der ganzen Welt haben in ihre Internetauftritte Systeme wie GlobaLeaks und SecureDrop eingebaut. Sie ermöglichen Hinweisgebenden, Material zur Verfügung zu stellen, ohne ihre Identität preisgeben zu müssen. Es ist eine neue Ära, dass große Medien proaktiv um durchgestochenes Material bitten, und sie beruht auf der Pionierarbeit von Julian Assange und Wikileaks. Das ist eine unbestrittene Tatsache, die es noch ärgerlicher macht, dass solche Medien Assange nicht verteidigen, indem sie klar sagen: In diesem Fall sind wir alle Assange.

In den letzten Monaten haben wir allerdings eine wachsende Unterstützung für Assanges Sache bei vielen Journalist*innen und Pressefreiheitsorganisationen beobachtet. Das ist gut, aber es könnte und sollte viel mehr getan werden, um das Schweigen über diesen Fall zu brechen. Es sollte klar gesagt werden, dass diese anhaltende und nicht nur juristische Verfolgung sofort enden muss. Assange muss freigelassen, alle Anklagepunkte müssen fallengelassen werden.

Journalismushistoriker Mark Feldstein, Professor an der Universität Maryland in den USA, hat vor Gericht ausführlich über die Geschichte solcher Konflikte zwischen Journalismus und Regierungen gesprochen. Meistens hatten US-Regierungen nicht den Mut, Journalist*innen für das Veröffentlichen von geheimen Informationen zu verfolgen, und wenn sie es doch taten, war es nicht erfolgreich. Deswegen wurde Assange jahrelang nicht angeklagt. Die Trump-Regierung tat es, obwohl es keine neuen Gründe dafür gab. Es ist also von einem politisch motivierten Angriff gegen Assange auszugehen. Was erwarten Sie von der Biden-Regierung? Könnte sie den Fall nicht einfach zu den Akten legen?

Tinari | Im Januar gab es dafür ein Gelegenheitsfenster für den neuen US-Präsidenten. Es ergingen entsprechende öffentliche Aufrufe an Biden. Leider hat sich die neue Regierung dafür entschieden, gegen die Auslieferungsverweigerung Widerspruch einzulegen. Sie hat also klar gezeigt, dass Präsident Biden nicht die Absicht hat, zu intervenieren.

In Ihrem Rundbrief von August beschwerten Sie sich, dass „prominente Medien“ immer noch über Assanges Behandlung durch die britischen Behörden schweigen. Wie bewerten Sie die Presseberichterstattung über die Gerichtsanhörungen von Assange generell, und wie in Deutschland?

Tinari | Leider haben sehr wenige Mainstream-Medien regelmäßig und tiefschürfend über die Anhörungen berichtet. In den meisten Fällen wurde kurz über die Auslieferungsablehnung informiert, oft nur in Form von Agenturtexten. Es gab ein paar Ausnahmen in diesem oder jenem Land, wir wissen aber nicht genau, wie es in Deutschland war. Im Allgemeinen wurde der Fall stärker in unabhängigen und aktivistischen Medien behandelt. Tareq, zum Beispiel, verfolgte alle Anhörungen und hat in seinem Internetauftritt eine Sammlung genauer und umfassender Berichte veröffentlicht. Er hat auch alle Zeug*innenaussagen online gestellt.

Zum Solidaritätsaufruf und zu weiteren Informationen:

Speak up for Assange – International journalist statement in defence of Julian Assange

https://www.gofundme.com/f/help-journalistsspeakupforassange-grow

https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-67362031444-6/fulltext

 

 

Tareq Haddad, freier Journalist in London

Foto: privat

 

Serena Tinari, freie Journalistin in Bern

Foto: Karin Scheidegger

 

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