Mediale Streitkultur verbessern

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„Deutschland spricht“ heißt die Plattform von Zeit online, die politisch konträr denkende Menschen zum Zwiegespräch zusammenbringt. „Ich hätte nie gedacht, dass ich mich ganz bezaubernd mit einem Ex-Neonazi unterhalten kann“, so Chefredakteur Jochen Wegner auf der virtuellen Erlanger Medienethiktagung der DGPuK zum Thema „Streitkulturen“. Die engagierten Diskussionen kreisten um die Rolle von Streit in der Demokratie und wie Medien mit Polarisierungen in aktuellen Diskursen umgehen können.

Etwa 100 Teilnehmer*innen aus Kommunikationswissenschaft und Medienpraxis beleuchteten gesellschaftliche Diskurse aus medienethischer Perspektive. Wie können Streitkulturen „unter veränderten digitalen Bedingungen“ dazu beitragen, im „respektvollen Miteinander“ Konflikte konstruktiv zu bewältigen? Wie Medien Menschen überhaupt erreichen können, thematisierte die Kölner Journalistikprofessorin Marlis Prinzing im Gespräch mit Zeit online-Chef Jochen Wegner, der 2016 anlässlich der Bundestagswahl mit seiner Redaktion das Projekt „Deutschland spricht“ startete. „Eigentlich wollte ich nur die Software für die Datingplattform ausprobieren“, erzählte er und dann traf er „Mirko, Maschinenführer mit Ostvergangenheit“ in einem Berliner Café, mit dem er per algorithmischem Matching zusammengebracht wurde. „Es war interessant, wie er die Welt sah“, so Wegner, der hinterher erfuhr, dass Mirko eine „Neonazi-Vergangenheit hatte, die er mir verschwieg, weil er mit dieser Zeit abschließen wollte“.

Das Konstruktive an diesen Gesprächen sei, dass die Menschen sich füreinander interessieren und Verständnis entwickeln – zumal die Orte, wo man auf Fremde trifft, weniger würden. „Deutschland spricht“ sei wegen der großen Resonanz inzwischen Stiftungsfinanziert und international tätig, so Wegner und: „Wir sind viel mutiger geworden, was die Rekrutierung von Leser*innen angeht“. So habe die Zeit jetzt eine Serie über soziale Klassen gestartet und nun „schwappen Leute in unsere Blase“, die nicht zu den üblichen Leser*innen gehören, freut er sich. Andere Medien wie FoxNews nutzen dagegen die „Blase als Geschäftsmodell“, indem sie versuchen, aus der sozialen Spaltung Reichweite und Kapital zu schlagen.

Wege zur konstruktiven Streitkultur

Um die Verantwortung des Publikums für eine konstruktive Streitkultur ging es in zwei folgenden Vorträgen. Die Passauer Kommunikationsforscher Philip Dietrich und Thomas Knieper waren überzeugt, dass Onliner eine Publikumsethik befördern können. In ihrer Doppelrolle als Medienkonsument*innen und -produzent*innen, kurz Prosument*innen würden sie selbst erleben, was es bedeutet, gegen ethische Standards zu verstoßen: „Ein Shitstorm hat negatives Feedback und wird sanktioniert.“ Dieser Lernprozess zwinge Prosument*innen und Medien zu mehr Selbstkontrolle. Jüngstes Beispiel sei die WDR-Talkrunde „Die letzte Instanz“, die im Internet heftig kritisiert wurde, woraufhin der Sender sich entschuldigte.

Medienkompetenz gelte als „Allheilmittel“, etwa wenn Menschen durch Verschwörungstheorien verunsichert würden, sagte Hans Büsch, Professor für Medienpädagogik in Mainz. Zusammen mit Marlis Prinzing erläuterte er, dass weitere ethische und digitale Kompetenzen unverzichtbar für eine konstruktive Diskurs- und Streitkultur seien. So könnten „Leitfäden für Redaktionen zum Umgang mit Hate Speech auch fürs publizierende Publikum nützlich“ sein, meinte Prinzing. Außerdem seien digitale Kompetenzen – Wissen über das Funktionieren der Plattformen und Datenschutz –unverzichtbar. Es gelte, in einem bürgerwissenschaftlichen Diskurs Kriterien für einen Basiskatalog zu entwickeln und in der Bildungspolitik zu verankern – aber „nicht nur für die Schule“, ergänzte Büsch.

Aktuelle Diskurse: Corona, Islam und Klima

„Die Regierungspolitik ist für mich wie ein Porsche, der mit aufheulendem Motor vor der roten Ampel steht“, so die Kölner Medizinethikerin Chistiane Woopen im Gespräch mit Johanna Haberer, Professsorin für christliche Publizistik in Erlangen. Sie vermisse eine „kraftvolle Lösungsorientierung“ und langfristige Perspektiven in der Corona-Pandemie. Medien könnten dazu beitragen, indem sie selbst Themen setzen. Jetzt sei es wichtig, über internationale Impfstrategien zu berichten, so Woopen. Als Negativbeispiel für mediale Diskurse nannte sie den in der Bildzeitung konstruierten „Virologen-Clinch“ Drosten gegen Streeck. Einen „guten Job“ machten Talkshows, die ihre Rolle als emotionale Streitarenen änderten und verstärkt aus unterschiedlichen Perspektiven informierten.

Eine „Warnampel für Islamfeindlichkeit“ im Internet entwickelten Julia Krasselt und Philipp Dreesen, beide Digital-Linguistic-Forscher*innen aus Zürich. Sie hatten mittels datengeleiteter Diskursanalyse Texte zum Islam nach menschenfeindlichen Positionen und nicht wissensbasierten Wertungen untersucht. Dabei verglichen sie die extrem rechten Online-Magazine Compact und PI News mit Zeit online, Bild.de und Spiegel Online-Nachrichten. Zwischen 2013 und 2018 erschienene Texte bereiteten sie linguistisch auf – nach Wörtern, Themen und ihren Bezügen. Während etwa „Koran“ in den Vergleichsmedien national, international und feuilletonistisch kontextualisiert wurde, tauchte das Wort in den beiden rechtsradikalen Publikationen immer im Zusammenhang mit Aufrufen zur Gewalt gegen Ungläubige, terroristischen Anschlägen und Gewaltverbrechen auf. Technisch sei es so möglich, das islamophobe Potenzial eines unbekannten Mediums einzuschätzen.

Die „neue Klimaberichterstattung“ skizzierte Torsten Schäfer, Journalistikprofessor an der Hochschule Darmstadt. Sie sei mehr als ein Thema, sondern eine “Dimension“ mit vielen Narrativen – Nachhaltigkeit als universellem Wert mit starken lokalen Bezügen, Ökologie und Verteilungsgerechtigkeit. Der Spiegel habe jetzt ein Klimaressort, die Taz einen Sprachleitfaden für Klimajournalismus und in einer Petition wird für das ARD-Fernsehen „Klima vor Acht“ statt „Börse vor Acht“ gefordert. Alarmistische Umweltberichterstattung („German Angst“) weiche einem konstruktiven Journalismus, der „Grauen und Gelingen“ thematisiere.

Die Macht der Tech-Konzerne

Vorschläge zur Analyse inziviler Kommunikation, d. h. von Streitgesprächen, in denen unterschiedliche Standpunkte nicht begründet und respektiert werden, stellten die Bremer Medienforscherinnen Stefanie Averbeck-Lietz und Viviane Harkort vor. Sie unterschieden eine auf Argumenten und Gründen fußende Kommunikation von einer moralisch wertenden, die sich zu Hate Speech und „gefährlicher Rede“ radikalisieren kann – besonders wenn sie mit einer Ideologie verbunden ist. In den USA aktualisierte Ex-Präsident Donald Trump z.B. die lange Tradition des Antikommunismus in seinen Hasstiraden. In der deutschen Öffentlichkeit zählen etwa 20 Prozent der Menschen zu den extremen Rändern. Aber haben sie eine „tragende Ideologie“, fragten die Referentinnen.

Wie Medienpolitik konstruktive Streitkulturen befördern kann, die für demokratische Systeme wichtig sind, wurde abschließend diskutiert. Da kommerzielle Plattformen Informationen algorithmisch so aufbereiten, dass sie Meinungen verstärken und politische Polarisierungen begünstigen, müssten sie reguliert werden. Eine Algorithmentransparenz nütze aber nur denjenigen, die über technisches Wissen und Geld verfügen. Sinnvoller sei eine medienethische Sensibilisierung der Programmierer*innen und die Entwicklung einer Software, die User auch über nicht gesuchte Informationen stolpern lässt. Weiterer Kritikpunkt war, dass Plattformen Input getrieben sind und sich nationaler Medienregulierung entziehen. Wie schwierig es ist, große Tech-Konzerne zu regulieren, zeigt der aktuelle Streit zwischen Facebook und Australien. Wegen eines Gesetzes, nach dem die Plattformen für Inhalte von Verlagshäusern oder Sendern zahlen sollen, blockierte Facebook Nachrichten-Inhalte. Inzwischen schließen sich Kanada und weitere Länder dem australischen Widerstand an.

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