Spät aber nicht zu spät: Lobby für die Zwangsarbeiter
Vor fünf Jahren konnten die Bürger des oberbergischen Städtchens Meinerzhagen in der „Meinerzhagener Zeitung“ und in der „Westfälischen Rundschau“ Ungewohntes lesen: „Was schlummert alles in den Fuchs’schen Archiven? Nazis auch nach 1945 in Amt und Würden.“ Berichtet wurde ausführlich über eine Gedenkveranstaltung im evangelischen Gemeindehaus, in der ältere Bewohner, ehemalige Arbeiter der allgewaltigen Firma Otto Fuchs ihr Schweigen gebrochen hatten.
Vom Amtsoberinspektor Fritz Sinderhauf war die Rede, der deutsche Arbeiter und russische Zwangsarbeiterinnen beim Fuchs’schen Vertrauensmann bei der Gestapo, Kommissar Hermann Bolte, benannt hatte – als mögliche Teilnehmer an Widerstandshandlungen. Von der Firmenleitung Fuchs war die Rede, die der Gestapo einen Folterkeller zur Verfügung stellte, um Betriebsangehörige zu „verhören“. Die acht Opfer kamen aus den Rüstungsbetrieben Fuchs und Grashoff, die beide über Zwangsarbeitslager verfügten. Sie wurden am 29. März 1945 von der Gestapo aus dem Fuchs-Werk abtransportiert und am Tag darauf in der Bittermark bei Dortmund erschossen. Das geschah im Rahmen der „Kriegsendphasenverbrechen“, wie sie heute von Historikern genannt werden.
Firmenchef Hans Joachim Fuchs wandelte sich vom Wehrwirtschaftsführer zum Ehrenbürger von Meinerzhagen. Amtsinspektor Fritz Sinderhauf wurde nach 1945 oberster Beamter der Gemeinde. Die Hinterbliebenen der vier deutschen Arbeiter erhielten keine Unterstützung von Werk und Amt, sie schwiegen angesichts der Allgewalt der alten und neuen Herren. Die Namen der vier sowjetischen Zwangsarbeiterinnen wurden nie bekannt.
Und dann vor fünf Jahren die scheinbar befreiende Frage: Welche Rolle spielte Fuchs, was schlummert noch in seinen Archiven? Und die befreiende Tat: Ein Straßenschild „Platz der acht Opfer des 29. März 1945“ wurde vor dem Fuchs’schen Werkstor angebracht.
Doch das Schild ist längst wieder verschwunden. Die Fragen verstummten. Im Februar dieses Jahres fand sich allerdings der Name Fuchs erneut in der „Westfälischen Rundschau“. Otto Fuchs Metallwerke werden in der Mitgliederzeitschrift der IG Metall genannt unter jenen, die Zwangsarbeiter beschäftigten, sich nicht aber an einem Entschädigungsfonds beteiligen. Ständig 850 Sklaven wurden in Fuchs‘ Lager gezählt. („metall“, 2/2000)
Was die Zeitungen des kleinen Ortes vor Jahren schrieben, war mutig, aber nicht nachhaltig. Aber es war mehr als andere Medien jahrelang über das Schicksal der Zwangsarbeiter und das Wirken ihrer „Herren“ berichteten.
Jahrelang blieb das Thema tabu
Die Medien und die Zwangsarbeiter, das ist ein Kapitel für sich, meint Alfred Hausser, der 86-jährige Sprecher der „Interessengemeinschaft ehemaliger Zwangsarbeiter unter dem NS-Regime“ aus Stuttgart. Hausser, Metallarbeiter, einst wegen Hochverrat verurteilt und Zwangsarbeiter bei Bosch, gründete seine Vereinigung vor fünfzehn Jahren. Schon vorher hatte er sich als Vorstandsmitglied der VVN gegen bestimmte Regelungen des Bundesentschädigungsgesetzes gewandt, in dem das Wort Zwangsarbeit nicht vorkommt. Ein Appell des Europäischen Parlaments aus dem Jahr 1986, dass die deutsche Industrie den Lohn nachzahlen soll, machte ihm seinerzeit Mut. Aber die Medien nahmen sich nur zögernd des Themas an und dann jahrelang gar nicht. Wenn Alfred Hausser heute jemand sagt: Warum kommt Ihr erst jetzt mit Eurer Forderung, dann klingt das wie Hohn in seinen Ohren. Bis zum Friedensvertrag Zwei-plus-Vier war das Thema tabu, entsprechend dem Londoner Schuldenabkommen vierzig Jahre zuvor. Und auch die Medien fragten nicht nach.
Heute berichten sie mehr als je zuvor. Zwei großartige TV-Filme entstanden: „Das letzte Tribunal“ von Conrad Schuhler (Süddeutsche Zeitung/vox/Deutsche Welle) und „Ich war ein Zwangsarbeiter“ von Luke Holland (Arte und WDR). Interviewwünsche werden an die wenigen überlebenden Zeitzeugen wie Alfred Hausser herangetragen in einer Zahl, die sie kaum noch verkraften können. Ein Historiker warnte kürzlich in der „Berliner Zeitung“: Das ist ja Antikapitalismus, was sich da breit macht. Na und? Doch richtig ist an diesem Hinweis: Wir alle stehen in der Schuld der Sklavenarbeiter. Die Nachkriegsgesellschaft stand ökonomisch auf ihren mageren Schultern.
„Als das deutsche Kapital in USA in Bedrängnis kam, da ging es los. Eine neue Managergeneration musste sich zur Bereinigung bequemen,“ sagte ein anderer Zeitzeuge, der jetzt 90-jährige Werner Stertzenbach. In den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren war er als antifaschistischer Journalist tätig, lange Zeit Chefredakteur der „Tat“. Er war Berichterstatter vom Eichmann-Prozess und vom Maidanek-Tribunal. Über die Sklavenarbeit bei IG Farben hat er Enthüllungen verbreitet. Die übrigen Medien schauten meist weg. Und Stertzenbach wurde die Entschädigungsrente entzogen, weil er, der Jude und Kommunist, nach KZ-Haft und Illegalität in Holland weiter gegen die Nazis anschrieb. Gefährdung der „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ wurde sein Journalismus im Behördendeutsch des Kalten Krieges genannt.
Heute sind die Medien so frei, die Listen der nicht zahlungswilligen Kapitalisten zu verbreiten. Liegt es vielleicht daran, dass die Medien-Kapitalbesitzer nicht betroffen sind von den Forderungen der Zwangsarbeiter-Anwälte? Oder halten sie die Zeit für gekommen, die Konzerne zur Kasse zu bitten, weil es ohnehin – siehe die Appelle der Industriefondchefs, sich einzureihen – an der Zeit erscheint, dass das Kapital in „Kollektivschuld“ (so der „Spiegel“) macht? Sind sie deshalb so frei in ihrer Kritik?
Diese Berichterstattung – sieht man von „Frankfurter Rundschau“, „Woche“, „Süddeutsche Zeitung“, „Junge Welt“, „Neues Deutschland“ und „Unsere Zeit“ ab – erfolgte erst sehr spät, aber nicht zu spät. Alfred Hausser ist jetzt zwar begeistert: „Der Knoten ist geplatzt. Was haben wir doch jetzt endlich für eine Presse.“ Nicht zu übersehen ist allerdings: Die ausführlichen Fernsehbeiträge erreichen zwar hohe Qualität, nicht aber die kleinere Form.
Probleme auch bei der aktuellen Berichterstattung
Während die genannten Filme wie auch einige Beiträge der Fernsehmagazine wie des Hessischen Rundfunks von höchster Emotionalität und Sensibilität, zugleich aber von Sachkunde geprägt sind, ist Letzteres in den aktuellen Beiträgen nicht immer anzutreffen. In Artikeln und Funk- und Fernsehnachrichten wird oft vieles vermengt, was nicht direkt zusammenpasst oder zum Thema gehört: Verbrechen an Kriegsgefangenen, Zwangsarbeit, Arisierungsschäden, anonyme Konten, Massenvernichtung, Goldraub. Das führt zur Verwirrung. Missverständnisse, so klagt der Historiker Professor Ulrich Herbert von der Universität Freiburg, würden durch ungeklärte Begriffe hervorgerufen. So würden in den „Tagesthemen“ der ARD zum Thema Zwangsarbeit stets Bilder jüdischer KZ-Häftlinge eingeblendet. Kerngruppe für Industrie und Rüstungsproduktion seien jedoch die ausländischen Zivilarbeiter gewesen. Irreführend sei auch der häufige Hinweis auf „freiwilligen“ Arbeitseinsatz in Deutschland. Ukrainerinnen, die sich seit 1941 zur Arbeit in Deutschland meldeten, seien von den deutschen Behörden genauso schlecht behandelt worden, wie jene, die zur Zwangsarbeit deportiert wurden: Viele mussten in Lagern leben und durften vor Kriegsende nicht nach Hause zurückkehren.
Zu wenig konkret ist oft die Kritik: Was, wenn nicht viel zu wenig, sind schon ein Promille vom Umsatz p.a., der von den Firmen zu zahlen ist? Waren landwirtschaftliche Zwangsarbeiter wirklich besser dran? Warum gelten KZ-Haft als „echte“ Haftbedingungen, nicht aber die Lager bei den Betrieben, nicht die Gestapo-Folterstätten, Arbeitserziehungslager genannt? Bedurfte es des Stacheldrahts und des Wachpostens, um Menschen einzupferchen, oder war nicht die ganze deutsche Gesellschaft der Zaun, der unüberwindlich war? Was war die besondere Qual der Ostarbeiter? Worin bestand die Zwangsarbeit der so genannten Kriegsgefangenen und warum werden sie nicht entschädigt?
Sollte nicht auch konsequenter mit dem „Argument“ des Stammtisches umgegangen werden: „Wir waren doch alle Zwangsarbeiter, z. B. in Russland“? Da werden Ursachen und Wirkungen durcheinander gebracht, und die Medienmacher machen dies nicht immer genügend deutlich. Auch nicht das Gerede von den „jüdischen“ Anwälten. Was wird damit bezweckt?
Wenn viele Städte und Gemeinden sich jetzt auf finanzielle und praktische Hilfen für ihre ehemaligen Zwangsarbeiter vorbereiten, so ist dies zweifellos – neben den Bemühungen von Antifa-Initiativen und Verfolgtenverbänden – ein Verdienst von Medien vor Ort. Allerdings bedurfte es vielfältiger Enthüllungen, um die Kommunen auf diesen Weg zu bringen. Mittels der Lokalzeitungen vieler Städte und Gemeinden wurde das Thema auf die Tagesordnungen der Stadträte gesetzt, um auch an die Verantwortung der Städte für die von ihnen einst ausgenutzten Zwangsarbeiter in den öffentlichen Einrichtungen und Betrieben zu erinnern und Entschädigungsleistungen der Kommunen zu verlangen. Daraufhin wurde in vielen Gemeinden beschlossen, dass sie in der Bundesstiftung mitwirken, dass sie die nötigen Informationen für die ehemaligen Zwangsarbeiter beschaffen und alles Mögliche unternehmen, um diesen Menschen zu helfen.
Einbeziehung der Gemeinden – Verdienst und Aufgabe der Lokalmedien
Während zunächst einige Stadtspitzen noch behaupteten, sie seien nicht gefordert, denn die Stadt habe im Krieg keine Zwangsarbeiter ausgebeutet, so konnten Recherchen wie etwa von WDR Lokalzeit Dortmund und Bergisches Land dem Gedächtnis der Stadtväter nachhelfen. Es wurden solche „Arbeitsplätze“ sehr exakt nachgewiesen. Wenn in Köln, der größten Stadt des Landes NRW, OB Harry Blum (CDU) zunächst noch glaubte, allein mit einer Benefiz-Kampagne „zwangsweise kölsch“ reagieren zu können; so wurde nach öffentlichen Erörterungen beschlossen, die städtischen Betriebe aufzufordern, schnellstens über ihre Mitwirkung an Entschädigungsleistungen zu entscheiden und sich angemessen zu beteiligen. Es sei erwiesen, dass die „Kommunen an der Ausbeutung der Zwangsarbeiter beteiligt waren und erhebliche Mitschuld am Elend der Sklavenarbeiter hatten,“ erklärte der Kölner Stadtrat. Auf ein allgemeines Problem wies Bochums Oberbürgermeister Ernst-Otto Stüber (SPD) hin: Von den etwa 30000 Zwangsarbeitern, die während der Nazizeit in Bochum eingesetzt waren, sind bislang gerade mal 106 namentlich bekannt. Diese sollen jetzt nach Bochum eingeladen werden. Geplant ist auch eine wissenschaftliche Aufarbeitung des Themas. Eine solche Aufarbeitung wurde auch in den Städten Bocholt, Dortmund, Düsseldorf und Gelsenkirch seitens der dortigen Gedenkstätten angepackt. Nirgendwo wurde solche Einsicht ohne Mediendiskussion möglich.
Nach Recherchen des Experten Prof. Ulrich Herbert haben rund zehn Prozent der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter direkt für die Städte und Gemeinden und ihre Betriebe geschuftet. Doch sahnten die staatlichen Stellen kräftig ab: An fast der Hälfte der Zwangsbeschäftigten verdienten sie durch Abgaben der Betriebe an die Kommunen, die die Sklavenarbeiter „ausliehen“. Dies konkret nachzuweisen, ist eine Herausforderung für die Lokalberichterstattung.
Noch zu wenig verbreitet ist der Mut der Kommunalpolitiker, die Firmen aufzufordern, endlich ihre Firmenarchive zu öffnen und in den Fonds der Bundesstiftung einzuzahlen. Hier können die Medien einspringen und Druck machen.
Wirkung der Liste
Die Präsentation von 2500 noch heute existierenden Sklavenhalterfirmen durch das „Neue Deutschland“, verbreitet im Internet von der VVN-BdA, hat eine anhaltende Welle von Medienaktivitäten vor Ort ausgelöst. Allerdings nicht nur positive. So erhielten Betriebe im Bergischen Land und in Köln Anrufe von Staatsschutzabteilungen der Polizei, sie müssten mit gewalttätigen Protesten rechnen, wenn sie nicht dem Stiftungsfonds beiträten. Diese oft ausländerfeindliche, ja antisemitische Wirkungen auslösenden Polizeimaßnahmen bezogen sich auf die genannte neue Liste der Zeitung „Metall“, in der die Gewerkschaft Namen von noch nicht beigetretenen Firmen nennt.
Doch nach wie vor ist die Verbreitung solcher Listen wie auch die immer umfangreicher werdende Berichterstattung der örtlichen Print- und Funkmedien ein wirksamer Nachhilfeunterricht. Das Thema wird uns noch länger beschäftigen. Wie es schon 1995 in Meinerzhagen hieß: Öffnet die Firmenarchive! Und sagt die Wahrheit über die Zeit vor und nach 1945!
- Ulrich Sander ist freier Journalist und Autor in Dortmund und einer der Bundessprecher der VVN-BdA (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten)
Aktualisierte und regionalisierte Listen sind bei den IG Metall-Verwaltungsstellen erhältlich, die ND-Liste steht auch im Protokoll des Gewerkschaftstages ’99 der IG Medien.