Etwas wird sichtbar

Schule und Bildung im Dokumentarfilm

Motomu aus Bochum hat sich für das Akkordeon entschieden, Esragül aus Herne für die Gitarre. Kerem aus Duisburg probiert es mit der Langhalslaute Baglama und Joana aus Herne griff zur Geige. Vier Kinder, vier Instrumente, vier Beispiele für das Projekt „Jedem Kind ein Instrument“. Der Filmemacher Oliver Rauch hat darüber einen Dokumentarfilm gedreht – es ist eine Hommage geworden an ein einzigartiges musikalisches Projekt, an dem inzwischen im Ruhrgebiet über 500 Grundschulen beteiligt sind, 52 Kommunen und 56 Musikschulen.


Der Film wurde in Teilen vorgestellt auf dem Kölner Symposium „Etwas wird sichtbar – Schule und Bildung im Dokumentarfilm“, veranstaltet von der Dokumentarfilminitiative NRW. Welchen Beitrag Dokumentarfilme zur Bildungsdebatte leisten könnten, lautete eine Leitfrage. Wie Filmemacher das System Schule wahrnehmen, eine andere. Material liegt genug vor. In den letzten acht Jahren sind über 30 Dokumentarfilme entstanden, in denen Schule und Schüler die Hauptrolle spielen.
Sieht man sich die Filmtitel an, ist die Wahrnehmung eher desaströs: „Lernen bis zum Umfallen“, „Kampf im Klassenzimmer“ oder „Klassenkampf“. Das Augenmerk der Dokumentaristen gilt meist den Bildungsverlierern: Hauptschüler, Förderschüler, Migrantenkinder. Die meisten Autoren nehmen im System Schule Partei für die Kinder, gehen mit ihnen auf Augenhöhe und versuchen, ihre Probleme zu beschreiben. Meist geht es um das „Drama der Selektion“, wie der Familiensoziologie Ulrich Oevermann das übergreifende Thema beschrieb.
„Klassenkampf“ von Uli Kick zum Beispiel. Ein schöner mehrdeutiger Titel. Der Autor besuchte eine normale Münchner Hauptschule. Nichts Auffälliges in Klasse 9A. Wer wird den qualifizierten Hauptschulabschluss schaffen, wer am Ende mit leeren Händen da stehen?
Auf den ersten Blick sieht die 9A aus wie eben eine Hauptschulklasse. Aber der Dokumentarist weitet den Blick. Er erzählt den Hintergrund zu den Schülerbiographien. Janine muss sich um die kleine Schwester kümmern, weil die Mutter schwer krank ist. Donya, aus dem Iran stammend, verdient für die alleinerziehende Mutter etwas dazu. Die Mädchen sind die verantwortungsvollen Sozialcracks.
Zwei Jungs dagegen entpuppen sich als Sportcracks: David treibt seit Jahren Stepptanz auf internationalem Niveau, Julius spielt Sqash, ebenfalls international. Dazwischen der verpeilte Bennie, der so oft zu spät kommt, dass die Schule den Hausmeister schickt, ihn aus dem Bett zu holen; wie durch ein Wunder schafft er den Abschluss. Nicht so der Kosovo-Albaner Fahri, der immer gern den Unterricht stört – nebenbei erfahren wir, dass er zu Hause seinen blinden Vater pflegt.
Dazwischen steht die Lehrerin, im Dienst ergraut, in Jahren erfahren. Eine, die ihren Beruf und die Jugendlichen liebt. Und doch gegen Ende des Schuljahres ordentlich ausrastet, weil mal wieder nichts klappt. Sie kritisiert, hierin mit dem Filmemacher einig, das Dreiklassensystem und wünscht sich auch für sich eine andere Perspektive: „Wir werden dafür bestraft, dass wir uns mit den Schwierigen befassen: Wir müssen länger arbeiten und werden schlechter bezahlt“.
Heiterer und allein aus Sicht der Kinder, schildert der Filmemacher Calle Overweg das Schuljahr einer Berliner Klasse im ersten Jahr nach der sechsjährigen Grundschule. Hier sind die Bildungswege flexibler, Aufstieg in den Status von Realschülern ist möglich. Der Autor hat mit den Kindern gesprochen, ihnen Szenen gezeigt und sie Kommentare sprechen lassen: „Welcher Idiot hat sich den Elternsprechtag ausgedacht“, seufzt etwa der 13-jährige Oleg, der lieber den ganzen Tag Schlagzeug spielen würde. Ein leichterer und fröhlicher Film, bei dem freilich auch immer wieder durchscheint, wie sehr auch Eltern beteiligt sind an schulischem Erfolg oder Misserfolg. Wie in allen Filmen fällt auch hier besonders auf: die Abwesenheit der Väter.
Doch bringt auch die Ganztagsschule nicht automatisch die Lösung aller Probleme. Darauf machte die Journalistin und Filmemacherin Isabelle Bourgeois aufmerksam, die in Paris an vergleichenden deutsch-französischen Medienprojekten arbeitet. In Frankreich ist die Ganztagsschule verpflichtend, das Schulsystem basiert auf Einheitsschule und Einheitsabitur, alles wird zentral gelenkt. Lehrer werden schlecht bezahlt und genießen wenig gesellschaftliches Ansehen. Von den Eliteschulen abgesehen, leistet die Schule weniger für die Bildung als für die Basissozialisation. Die Grundideologie Frankreichs, die Egalité, werde im Schulsystem jeden Tag unterlaufen, sagt Isabelle Bourgeois, sie behindere „die soziale Mobilität“: Chancengleichheit wäre als Begriff für das Bildungswesen wichtiger.
Chancengleichheit ist wohl auch der Generalnenner für das Projekt „Jedem Kind ein Instrument“. Oliver Rauch beschreibt in seinem Film, dass es nicht nur um Musik geht, sondern vielmehr um bestimmte Basisfähigkeiten: zuhören können, aufeinander Rücksicht nehmen, zusammen arbeiten, sich aufeinander verlassen können. Auch das ist eine dokumentarische Auskunft über das System Schule – kaum ein Genre vermag darüber so vielfältig zu erzählen wie der Dokumentarfilm.

 

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