Das Gefühl, nicht genug zu tun

Solidarität: Kundgebung für den Frieden am 27. Februar in Berlin, gegen den Krieg in der Ukraine Foto: Kay Herschelmann

Wie verändert der Krieg die Bilder? Wie verändert er das Sehen? Wie verändert er diejenigen, die ihm standhalten oder die ihm zuschauen? Mit ihren Fotokolumnen über die Ukraine, die zwischen Februar 2022 und Herbst 2024 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erschienen sind, hat Katja Petrowskaja absichtslos eine Chronik des Krieges geschrieben. Mit M sprach sie über ihre Arbeit.

Über Fotos aus dem Krieg zu schreiben ist ein schwieriges Terrain. Oftmals zeigen sie entweder militärischen Heroismus. Oder sie versuchen, die Brutalität des Krieges zu fassen, die eigentlich nicht über ein Foto repräsentiert werden kann. Die Fotos, über die Sie schreiben, sind anders .

Eigentlich wollte ich über den Krieg überhaupt nicht schreiben. Der Krieg hat uns alle gezwungen unser Leben zu verändern – zumindest am Anfang. Es gehört zur Gewalt des Kriegs, dass man sich mit ihm beschäftigen muss. Meine Texte sind nur ein kleines Fragment des Widerstands gegen den Krieg. Wir Ukrainerinnen und

Katja Petrowskaja

ist 1970 in Kiew geboren, lebt seit 1999 in Berlin. Sie studierte in Tartu Literaturwissenschaft und Slawistik und promovierte in Moskau. Von 2000 bis 2010 schrieb sie für verschiedene russisch- und deutschsprachige Medien (Neue Zürcher Zeitung, taz, Deutsche Welle, Radio Liberty)

Ukrainer wollten diesen Krieg nicht. Ich schrieb sofort, von Anfang an, ich konnte nicht anders, ich schrieb aus dem Schmerz heraus, ich wollte mich dem Krieg widersetzen. Ich bin zwar seit langem in Berlin und damit in Sicherheit, aber ich stamme aus Kyjiw. Ich habe dort Lieblingsfreunde, Klassenkameraden, Verwandte. Meine Mutter habe ich in den ersten Wochen nach Berlin geholt. Meine Cousine und ihre Familie immer noch vor Ort. Sie schlafen seit zwei Monaten fast jeden Tag in U-Bahn. Der Krieg ist ganz nah an mir dran.

Wie würden Sie vor diesem Hintergrund ihre Position als Autorin beschreiben?

Ich sehe mich als eine Vermittlerin. Mit meinen Texten wollte ich zeigen, was die Menschen dort tagtäglich durchleben. Die Fotografie schafft Intimität, bringt das Geschehen nah. Ich wollte aus dieser Intimität, aus dem Privatem erzählen.

Was zeigen ihre Fotos? Was nicht?

Ich zeige keine ikonischen Bilder des Krieges und keine direkte Gewalt. Insgesamt sieht mein Buch fast „niedlich“ aus – zumindest im Vergleich damit, was ich jeden Tag auf meinen Kanälen sehe. In meinem Buch gibt es nur wenige Bilder, die den Krieg direkt zeigen. Ansonsten sieht man vor allem Menschen, die sich umarmen, alte Frauen bei Evakuierungen, Orte, oder sogar schöne Landschaften. Und auch Fragmente des friedlichen Lebens im Krieg. Es gibt einige schöne Gesichter im Buch, aber das sind Nachrufe auf junge, kluge und lustige Menschen. Oft habe ich Bilder gezeigt, um andere zu verschweigen – so wie man Schluchzen oder Weinen in sich unterdruckt.

Was macht es mit Ihnen, wenn Sie Fotos sehen, die Sie vermieden haben, in ihrer eigenen Zusammenstellung zu zeigen?

Ich fühle mich ohnmächtig, wütend, traurig und sprachlos. Meine Aufgabe ist es, genau diese Gefühle auszusprechen. Ich habe über durchschossene Straßenschilder geschrieben, aus denen für ein Festival in den USA ein Monument mit dem Satz „I am fine“ gebaut wurde. Wenn man näherkommt, dann sieht man, dass es sich um Schilder mit Namen von zerstörten Orten aus der Ukraine handelt. Die Ukrainerinnen und Ukrainer sind alle durchschossen vom Schmerz, vom Verlust, aber sie versuchen sich aufzurichten – obwohl jede Ruine einen körperlich ruiniert und man sich mit jedem toten Mensch auch in sich gefallen fühlt.

Die meisten Fotokolumnen haben Sie aus Berlin geschrieben. Zwei Mal waren Sie aber auch vor Ort, in Kyjiw. Wie war das für Sie?

In Kyjiw war ich vom Zugehörigkeitsgefühl vor Ort ergriffen. Dort lebt man in einer ständigen physischen Bedrohung, und plötzlich gehörte ich dazu. Als Zivilbevölkerung versucht man dort, ein normales Leben zu führen, obwohl man Ziel der russischen Armee, der es darum geht, die ukrainische Bevölkerung zu brechen, indem sie auf Häuser, die Energieversorgung, Dämme, Kirchen und Schulen zielt. Aber die Menschen leben weiter – mit vielen Toten im Herz. In Kyjiw habe ich erlebt, wie. Ich wollte Freunde treffen und musste aber zu einer Gedenkfeier: von King Arthur, einem Engel der Queer-Bewegung in Kyjiw und einer der fröhlichsten und lustigsten Menschen. Er war an der Front gefallen.

Bei meiner ersten Reise habe ich sehr starke russische Angriffe erlebt. Damals wurde eine Rakete direkt über meinem Haus abgeschossen. Dann kamen Drohnen und ich saß im Flur und wartete. Das war eine fürchterliche Nacht. Am nächsten Morgen aber war es schön draußen auf den Straßen. Diesen Frühlingsmorgen habe ich dann fotografiert und kommentiert. Die Fähigkeit der Ukrainerinnen und Ukrainer, sich aufzurichten inmitten von Schmerz, Tod und Gefahr und die Fähigkeit das normale Leben zu aufrechtzuerhalten, ist erstaunlich. Momente des Friedens oder der Schönheit auszudehnen, das gehört zum Widerstand gegen den Krieg und seine Gewalt.

Das heißt, Sie haben die Fotos nicht auf Grundlage einer vorab festgelegten Systematik ausgewählt, sondern vor allem durch Zufall und Intuition?

Am Anfang schien der Krieg absurd. Die Bilder waren schnell, abrupt, absurd. Man konnte nicht glauben, dass es alles passiert. Man war ständig in diesem absoluten Horrorzustand: Niemand weiß, wer als nächstes stirbt, wer als nächstes an die Front geht, wo die nächste Rakete schlägt, welche Stadt als nächstes angegriffen wird oder sogar ausgelöscht. Das hat sich seitdem nicht verändert. Aber die Geschwindigkeit ist anders. Mit dem Schreiben ist man immer zu spät, der Krieg überholt einen mit weiterem Geschehen.

Es gibt dennoch Leitmotive im Buch.

Zum Beispiel die Umarmungen: eine Mutter umarmt ihre Tochter, beide glücklich, sie stehen an einem Haus. Ich sehe das Foto und recherchiere: Sie sind aus der Stadt Izjum, die damals gerade befreit wurde. Dort wurde ein Massengrab – so wie in Butscha – entdeckt. Auch diese glückliche Familie hat sieben Monate im Keller verbracht. Ein anderes Bild zeigt einen Hund, der sich am Bein eines Sanitäters festhält. Auch das ist eine Umarmung, der Hund versucht, sich aufzurichten. Das Foto ist ein Fragment einer der größten ökologischen Katastrophe dieses Krieges, der Sprengung des Kakhovka -Dammes durch russische Truppen, wodurch ein riesiges Territorium überflutet wurde, mit Tieren und Dörfern und allem, was auf der Erde lebte. Ein anderes Foto zeigt eine Helferin, die eine alte weinende Frau bei ihrer Evakuierung umarmt. Durch diese fortschreitende Zerstörung kommen sich die Menschen näher – anders ist nicht zu überleben. Die Tiere zu retten, das ist fast wie die eigene Menschlichkeit zu retten.

In mehreren Bildern zeigen Sie alte Menschen, die aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters immobil und besonders fragil sind und vor der anrückenden russischen Aggression evakuiert werden.

In jeder Gesellschaft gibt es alte Menschen, aber auch Arme, Kranke oder Vernachlässigte. Sie alle sind meistens unsichtbar. In der Ukraine kommen sie bei der Evakuierung plötzlich im Vorschein, weil sie sich selbst nicht helfen können. Aber es wird ihnen geholfen, zahlreiche Freiwilligen-Teams sind dabei. Die alten Menschen stehen im Fokus der Bemühungen – auf sie schaut man und sieht den Wert eines jeden Lebens! Es ist ein unglaublicher Prozess…

Immer wieder wird deutlich, dass ihr Nachdenken über den Krieg nicht nur Erinnerung an Menschen weckt, sondern auch an Orte.

Mittlerweile sind mehrere Dörfer und Städte ausgelöscht. Ich wollte über die Existenz der Orte schreiben, die bedroht sind. Jeder Ort ist Speicher eigener Geschichte. Durch die Bedrohung wird die Geschichte des Ortes aktiviert. So nahm ich das Bild einer Kathedrale aus dem 13. Jahrhunderts in Tschernihiw, als eine Bombe ins Zentrum der Stadt eingeschlagen war, und schrieb über diese wichtige Stadt des slawischen Mittelalters, aber auch über die heutige Zerstörung. So wird viel klarer, was angegriffen ist. Als eine Bombe in ein Hochhaus in Uman einschlug, konnte ich aber keine Ruine zeigen, sondern habe eine alte Postkarte aus der Palmen-Orangerie im Park Sofijiwka mit einer Apollo-Statue ausgewählt. In Uman gibt es aber nicht nur diesen Park aus dem 18. Jahrhundert. Die Stadt ist legendär: jedes Jahr kommen dorthin über 30.000 chassidische Juden zu Rosch Ha-Schana, auch jetzt, im Krieg. In Uman befindet sich Grab von Rabbi Nachman, eine der wichtigsten Figuren des Chassidismus.

Der Krieg gegen die Ukraine gehört zu jenen Kriegen, die im Prinzip von jeder Person live gestreamt werden können und über den wir gerade über Social Media enorm viel Privates und Intimes erfahren können, selbst wenn wir keine Verwandten und Freunde vor Ort haben. Das ist ein relativ neues Phänomen. Welchen Einfluss hatte das auf ihre Fotoauswahl und ihr Nachdenken?

Dass wir den Tod buchstäblich online erleben, thematisiere ich immer wieder. Das war besonders deutlich, als sich die in den Asow-Stahlwerken Gefangenen sich verabschiedet haben. Online haben wir Menschen gesehen, die vielleicht in den nächsten Sekunden getötet werden und auch sie waren sich dessen bewusst. Anderenorts stehen die Menschen an den Fenstern ihrer Wohnungen und filmen die Angriffe auf ihre Stadt, die auch sie töten können. Über Facebook lernt man nun die tollsten Menschen kennen – aber oft erst dann, wenn – und weil – sie schon tot sind.

Für mich war es sehr wichtig, dass ich auf dem Cover ein Mädchengesicht habe. Man sagt, der Krieg hätte kein weibliches Gesicht. Das Foto ist ein Selfie. Es handelt sich um ein Mädchen, das in Kinderheim aufwuchs. An dem Tag, als Großangriffe kamen, geriet sie in Panik und dachte, es sei ihr letzter Tag. Sie hat ihr iPhone genommen, schwarz-weiß-Filter eingestellt und hat sich fotografiert, mit Gedanken: Von mir soll ein Foto bleiben. Sie hat es auf Instagram gepostet. Das war ein Akt des Überlebens. Und sie hat überlebt. Und sie ist mir wichtig: sie schaut schaut uns vom Cover an. Das Foto bleibt.

Inwieweit hat sich Ihr Blick auf den Krieg im Laufe der Zeit verändert?

Am Anfang war alles sehr schnell: Horror, Ohnmacht, Empörung, schnelles Agieren. Es war aber auch vom magischen Gefühl geprägt, dass, wenn wir alle – es waren viele Menschen, auch in Europa – uns widersetzen, wir den Krieg stoppen können. Den Sinn des Schreibens habe ich damals in Frage gestellt. Ich habe daher vor allem direkt geholfen oder Geld gesammelt. In meinem Schreiben war viel Empörung, und zu Beginn war es viel politischer. Mit der Zeit wurde aber klar, dass der Krieg lange dauern wird. Mit der Zeit habe ich Parallelen zu anderen Kriegen gezogen und mich an berühmte Texte erinnert. In einem Kriegsbild aus Odessa sah ich plötzlich eine Anspielung auf Caspar David Friedrich. Das war mir selbst widerlich. Denn ich verstand, dass auch ich mit meinen kulturellen Referenzen dazu beitrage, dass man sich an den Krieg gewöhnt, den Krieg „normalisiert “.

Ich habe auch aus Müdigkeit und Verzweiflung geschrieben. Im Krieg wiederholt sich alles:  Ruinen, Nachrufe und Trauer. Aber das zerstörte Leben war einmalig. In meinem Text „Als wäre es vorbei“ gibt es wieder eine Hoffnung an das Wunder, an den Frieden. Das Foto zeigt einen Regenbogen in Berlin, der mich schnell an den biblischen Regenbogen nach der Sintflut erinnert hat. Später habe ich auch über Basel geschrieben. Ich habe versucht, mich selbst zu überzeugen, dass es auch ein Leben jenseits von diesem Krieg und der Trauer gibt. Aber wenn ich darüber schreibe, verrate ich dann nicht die Menschen, die es viel mehr brauchen, dass über sie berichtet wird? Solche Gedanken sind fast wie ein Schuldgefühl.

Haben Sie dieses Gefühl auch beim Schreiben in Berlin gespürt?

Ja, da war immer das Gefühl, nicht genug zu tun. Wir alle haben nicht genug getan. Ein guter Text über den Krieg wäre einer, der den Krieg anhalten kann. Diese Fähigkeit ist aber keinem Schreibenden gegeben.

 

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