Hauptfigur des bewegenden Dokudramas über die Nürnberger Prozesse ist der junge jüdische Auschwitz-Überlebende Ernst Michel, der nun als Journalist über die Verhandlungen berichtet. Den dokumentarischen Teil prägen Michel selbst (gesprochen von Heino Ferch), seine Tochter (Annette Frier) und der Sohn (Herbert Knaup) einer polnischen Überlebenden. In den Spielszenen wirken außerdem Francis Fulton Smith als Hermann Göring und Wotan Wilke Möhring als dessen Anwalt mit.
„Hattest Du schon mal einen Albtraum?“, fragt der junge Mann in die Kamera. „Stell’ dir vor, du wachst auf, und der Albtraum geht weiter, immer weiter!“ Ernst Michels Nachtmahr sieht so aus. Das fahle Licht und die Kameraperspektiven sorgen im Zusammenspiel für erhebliches Unbehagen, als er schnellen Schrittes durch ein Gebäude und eine Treppe hinunter in den Keller geht. In dem heruntergekommenen Trakt, der wir ein Vorhof zur Hölle wirkt, passiert er eine Reihe von Zellen, daneben stehen die Namen der Häftlinge. Hess, Jodl, Kaltenbrunner und schließlich Göring, der Teufel höchstpersönlich: „Du bist also derjenige, den wir vergessen haben. Ein bedauerlicher Irrtum – den wir jetzt korrigieren.“
Dokudrama über eine Zeitenwende
Was wie ein Horrorfilm beginnt, ist ein auch dank der Musik gleichermaßen fesselndes wie erschütterndes Dokudrama über ein Ereignis, das zu einer Zeitenwende im Völkerrecht führte. Im November 1945 begannen im Nürnberger Justizpalast die Prozesse gegen die Hauptkriegsverbrecher des Nationalsozialismus’. Zum ersten Mal in der Geschichte mussten sich Politiker und Militärs vor einem internationalen Gericht für ihre Untaten verantworten. Der 22jährige Michel (Jonathan Berlin) aus Mannheim, Hauptfigur von „Nürnberg 45“, hat Auschwitz überlebt. Nun sitzt er als Sonderberichterstatter einer Nachrichtenagentur „Im Angesicht des Bösen“ (wie der Titelzusatz lautet) und lauscht gemeinsam mit den nach eigener Ansicht ausnahmslos unschuldigen Angeklagten den Aussagen anderer Überlebender, die von dem namenlosen Grauen in den Vernichtungslagern berichten.
Es gab schon einige Filme über die Prozesse, etwa den drei Stunden langen Hollywood-Klassiker „Urteil von Nürnberg“ (1961) mit Spencer Tracy als Richter oder den amerikanischen TV-Zweiteiler „Nürnberg – Im Namen der Menschlichkeit“ (2000). Beide schildern die Ereignisse aus Sicht der Ankläger. In den USA kommt in diesen Tagen „Nuremberg“ in die Kinos. Hauptfigur ist ein Psychiater, der sich an dem von Russell Crowe verkörperten Hermann Göring die Zähne ausbeißt. Der frühere Reichsmarschall repräsentiert auch in „Nürnberg 45“ das absolut Böse.
Die Rolle der Reporter
Francis Fulton Smith ist eine treffliche Besetzung, selbst wenn nicht alle seine kurzen Auftritte so furchterregend sind wie die Stippvisite in Michels Albtraum. Für die eigentliche Handlung ist seine Mitwirkung allerdings nicht weiter von Belang, obwohl sie sich wie ein roter Faden durch den Film zieht. Göring, durch Michels Zeitungsberichte neugierig geworden, bittet seinen Anwalt (Wotan Wilke Möhring), ein Treffen mit dem Reporter zu arrangieren. Michel ziert sich lange und sagt schließlich zu. Die Begegnung verläuft jedoch ganz anders, als sich das beide wohl ausgemalt haben.
Zweite zentrale Figur ist die polnische Widerstandskämpferin Seweryna Szmaglewska (Katharina Stark), auch sie hat Auschwitz überlebt und anschließend das Sachbuch „Die Frauen von Birkenau“ verfasst. Dirk Eisfelds Drehbuch basiert unter anderem auf ihrem Roman „Die Unschuldigen in Nürnberg“. Mit ihrer Hilfe gelingt es dem Autor, den erschütternden Ereignissen ein Happy End abzutrotzen. Ausgerechnet ein Artikel Michels spielt dabei die entscheidende Rolle. Dieser Schluss ist fast zu schön, um wahr zu sein, aber in der Tat authentisch. Ob das auch für die Begegnungen Michels mit dem jungen Willy Brand (Franz Dinda) gilt, ist dagegen nicht überliefert. Brandt war im Auftrag einer norwegischen Zeitung in Nürnberg. Dass sich die beiden allmorgendlich vor dem Rasierspiegel treffen, ist zumindest schön ausgedacht.
Erzählungen der Hinterbliebenen
Die Spielszenen sind ohnehin ausgezeichnet umgesetzt, zumal Regisseur Carsten Gutschmidt und Kameramann Jens Boeck die Anmutung ihrer Bilder den restaurierten und kolorierten zeitgenössischen Aufnahmen angenähert haben. Dass sämtliche Beteiligten Deutsch sprechen, obwohl die dokumentarischen Ausschnitte die Vielsprachigkeit der Prozesse belegen, schmälert den Eindruck der Authentizität allerdings. Was den Film hingegen zum Ereignis macht, sind die immer wieder eingestreuten Erzählungen der Hinterbliebenen, zumal ihre deutschen Stimmen den Ausführungen zusätzliches Gewicht verleihen. Das gilt auch für Gesprächsorte: Jacek Wiśniewski (Herbert Knaup), der Sohn von Seweryna Szmaglewska, ist für das Interview nach Auschwitz-Birkenau gereist. Michels Tochter Lauren Shachar (Annette Frier) hat zum ersten Mal den Saal besucht, in dem ihr noch vor Prozessende nach Amerika ausgewanderter Vater viele Stunden verbracht hat. Er selbst ist 2016 gestorben, wirkt aber dank eines Interviews (Heino Ferch) aus dem Jahr 2005 ebenfalls mit.
Zum Glück war auch der Programmdirektion klar, dass dieses Dokudrama, an dem sich sämtliche ARD-Sender beteiligt haben, ein Fernsehereignis ist. Der Sendetermin nach dem „Tatort“ beschert dem Film hoffentlich ein großes Publikum und belehrt im besten Fall auch all’ Jene eines Besseren, die endlich einen Schlussstrich unter die NS-Zeit ziehen wollen. Vor allem junge Leute, sagt Lauren Shachar in ihrem Schlusswort, sollten verstehen, welches Unheil entstehen kann, wenn Menschen zu viel Macht bekommen.
„Nürnberg ’45 – Im Angesicht des Bösen“. Deutschland 2025. Buch: Dirk Eisfeld, Regie: Carsten Gutschmidt. ARD, 9. November, 21.45 Uhr und in der Mediathek.

