149 Stellen gehen über den Jordan – unter Hochdruck werden neue Projekte befeuert
Im 70. Jahr seiner Existenz steckt der „Spiegel“ in seiner bislang tiefsten Krise. Auf sinkende Anzeigenerlöse und Verkäufe reagiert der Verlag mit einem drastischen Sparprogramm. Die von der Geschäftsführung verordnete „ Agenda 2018“ wird in den nächsten drei Jahren an die 150 Jobs kosten. Zugleich sollen mit Investitionen vor allem im Online-Bereich zusätzliche Einnahmequellen erschlossen werden.
Ins neue Jahr ging das Nachrichtenmagazin mit historischen Negativzahlen. Im 4. Quartal 2015 sank die verkaufte Auflage erstmals knapp unter die 800.000er Marke. Bei Abrechnung von 76.000 Bordexemplaren und sonstigen „Sonderverkäufen“ lag die „harte“ Verkaufsauflage nur noch bei rund 700.000 Exemplaren (einschließlich ca. 50.000 ePaper). Auch die Druckauflage erreichte mit unter 940.000 Exemplaren einen historischen Tiefstand. Auf Talfahrt befinden sich infolgedessen auch Umsatz und Gewinn der Spiegel-Gruppe. So sank der Umsatz seit 2007 um 19 Prozent auf 285 Millionen Euro im Jahr 2014. Im gleichen Zeitraum halbierte sich der Jahresüberschuss beinahe auf gut 25 Millionen Euro. Im abgelaufenen Jahr dürfte er wesentlich darunter liegen. Die bislang mit Gewinnbeteiligungen verwöhnte Belegschaft muss sich daher für 2015 mit deutlich weniger Prämien bescheiden. Der größere Teil des Überschusses soll in die Rückstellungen für den Verlagsumbau fließen.
In den nächsten beiden Jahren will das Haus rund 15 Millionen Euro einsparen. Auch das Personal soll bluten: 149 Vollzeitstellen stehen zur Disposition. Nach den bisher bekannt gewordenen Plänen sind vor allem die kaufmännischen Abteilungen (rund 100) betroffen. In der Dokumentation werden 14 Stellen gestrichen. Die Printredaktion muss auf 35 Jobs verzichten, vor allem in Servicebereichen wie Sekretariaten und Bildbearbeitung. Der harte redaktionelle Kern – Schreiber und Rechercheure – soll dagegen verschont bleiben.
Dem Betriebsrat ist es gelungen, zunächst ein halbjähriges Kündigungsmoratorium für die potentiell Betroffenen auszuhandeln. Allerdings wollte Geschäftsführer Thomas Hass bei der Bekanntgabe der „Agenda 2018“ Anfang Dezember auch betriebsbedingte Kündigungen nicht ausschließen. Wie sozialverträglich die anstehenden Jobkürzungen abgefedert werden, wird sich somit im Frühjahr entscheiden. Der Spiegel-Betriebsrat lehnte auf Anfrage ab, Zwischenergebnisse der Verhandlungen mitzuteilen.
Weiterhin belasten den „Spiegel“ diverse Baustellen. Der seit langem schwelende Konflikt zwischen Print und Online ist nach dem Abgang von Wolfgang Büchner zwar in den Hintergrund gedrängt, aber längst nicht beigelegt. Nach wie vor ist der „Spiegel“ eine Zweiklassengesellschaft. Auch die branchenunübliche Gesellschafterstruktur schafft Probleme: Die 51prozentige Beteiligung der Mitarbeiter als „stille Gesellschafter“ könnte sich beim geplanten Umbau des Verlags als „Reformbremse“ auswirken. Ausgerechnet jetzt, mitten in den Sparverhandlungen, steht die Kür einer neuen Geschäftsführung der Mitarbeiter-KG an. Bis Ende Februar wählen die noch rund 730 stillen Gesellschafter aus den Bereichen Print, Dokumentation und Verlag fünf Vertreter der KG, die 50,5 Prozent der Anteile beim „Spiegel“ hält. Nicht ausgeschlossen, dass die Geschäftsführung künftig mit einem Hauptgesellschafter verhandeln muss, der sich den Sparbeschlüssen der Agenda 2018 widersetzt. Mit einer Art Parallelbetriebsrat, in dem auch persönliche Betroffenheit das ökonomische Handeln beeinflusst.
Der Personalabbau dürfte in erster Linie durch verlagsübliche großzügige Vorruhestandspakete erfolgen. Diese verlagsfinanzierten mehrjährigen Freistellungen werden zwar wohl von allen Gesellschaftern mitgetragen. Aber angesichts der dramatisch verschlechterten Ergebnisse der Spiegel-Gruppe gehen solche Maßnahmen allmählich an die Substanz. Eine Zuspitzung der wirtschaftlichen Situation könnte auch Auswirkungen auf die Eigentumsverhältnisse haben. Von „Freitag“-Verleger Jakob Augstein, einem der vier mit jeweils sechs Prozent beteiligten Augstein-Erben, ist bekannt, dass er seine Anteile loswerden will. Eine entsprechende Anfrage von „M“ blieb allerdings unbeantwortet. Auch zwei seiner Halbgeschwister könnten in Versuchung geraten, vor einem weiteren Wertverfall des Unternehmens rechtzeitig Kasse zu machen. Gruner+Jahr, mit 25,5 Prozent Minderheitsgesellschafter, will dagegen seinen Einfluss eher ausbauen.
Unterdes wartet die Branche gespannt auf die angepeilten neuen Projekte des Verlags. Geplant unter anderem: der Aufbau von Paid Content bei Spiegel Online (Geschäftsmodell noch unbekannt), eine englischsprachige „Spiegel International“ Ausgabe, eine digitale Spiegel-Abendzeitung mit den wichtigsten News des Tages. Außerdem will der Verlag in Kürze den NRW-Spiegel starten, ein Regionalteil für Nordrhein-Westfalen, dem im Erfolgsfall weitere folgen sollen. Über den aktuellen Entwicklungsstand hüllt sich die Geschäftsführung einstweilen in Schweigen. An allen Projekten werde „wie geplant mit Hochdruck gearbeitet“, teilt Kommunikationschefin Anja zum Hingst vage mit. Aus gewerkschaftlicher Sicht ist bei der „Agenda 2018“ keine wirkliche Strategie erkennbar. „Es ist höchst widersprüchlich, zahlreiche neue Projekte zu starten, während gleichzeitig an anderer Stelle der Abriss einsetzt“, kritisiert ver.di-Fachbereichsleiter Martin Dieckmann den geplanten Personalabbau. Der „Spiegel“ sei wirtschaftlich noch potent genug, um auf solche Schnellschüsse zu verzichten.