Selbst erzeugte Gelüste

Heimatbilder zwischen kritischem Regionalismus und Provinzialismus

„Sag mal, verehrtes Publikum, bist du wirklich so dumm? Jeder Filmfritze sagt: Was soll ich machen? Das Publikum wünscht diese zuckrigen Sachen“, dichtete Kurt Tucholsky 1931 voll Ironie. An anderer Stelle wurde der Satiriker konkreter: Der Fluch der Mittelmäßigkeit in der Branche werde von einer kleinen Elite von Entscheidern geprägt und von deren Vorstellung, was das Volk wünschen soll – um den Erhalt eigener Privilegien zu sichern. Wer prägt wen? Der Fernsehmacher den Zuschauer oder umgekehrt?

Diese Fragen diskutierten Entscheider in den Sendern, freie Fernsehjournalisten, Produzenten und Medienwissenschaftler auf der Tagung „Heimatbilder – Dokumentarfilm und Fernsehen zwischen kritischem Regionalismus und Provinzialismus“ im Haus des Dokumentarfilms in Stuttgart erstaunlich ehrlich. Der Bogen praktischer Beispiele spannte sich weit: Im SWR exerziert eine in Trachten gezwängte Familie zwanghaft lustig und sinnentleert das „Schwarzwaldhaus 1902“ nach, im MDR stilisiert Seifenopern-Produzent Endemol in „Artern – Stadt der Träume“ ein Kaff vom sozialen Brennpunkt flugs zur künftigen Touristenhochburg, indem die Kamera über ein paar bedruckte T-Shirts und anderen Nippes wandert.

„Ich habe viele Dörfer kennen gelernt, meine Heimat ist das Café Hawelka in Wien“, stöhnte Thomas Rothschild, Dozent für Literaturwissenschaft an der Universität Stuttgart angesichts solch spießertem Provinzialismus. Statt sonst gängiger Selbstbeweihräucherung unter Fernsehmachern („Sagst Du mir nicht die Wahrheit, verschone ich dich auch“) wurde bei der Tagung allerdings Tacheles geredet. Zwingt das Publikum tatsächlich die unter Quotendruck stehenden Redakteure, Regionalfernsehen mit „Heimattümelei, Kochtopfjournalismus und Volksmusikzombies“ zu bestücken, fragte der Fernsehkritiker Tilmann Gangloff. Auch nach Ansicht des freien Filmproduzenten Mario Damolin erzeugen Journalisten jene reaktionären Gelüste von Fernsehkonsumenten selbst, über die sie sich hinterher beklagen. „Die Dinge passieren nicht einfach, sondern sind politisch gewollt. Statt mit dem Schwarzwaldhof ein dumpfes Wärmeempfinden zu beschwören, könnte man auch die baden-württembergische Revolution neu erfinden“, mahnte Rothschild. Hermann Bausinger, erimitierter Professor für Kulturwissenschaft, forderte ehrlichere Filme im Regionalfernsehen. Es gelte, dringliche soziale Probleme wie beispielsweise die immer noch existierende Ausgrenzung von Ausländern, offen zu thematisieren.

Trotz dieser kritischen Rezeptionen pries Johannes Unger, Programmbereichsleiter „Modernes Leben und Dokumentation“ (RBB), zunächst optimistisch die siebenteilige Serie „Der Brandenburger“.

Alternativen gab es

Sein Credo: Intellektuelle Tiefe müsse nicht sein, der Zuschauer habe ein Recht auf Idylle. Doch der brandenburgische Schweinsgalopp durch die Geschichte der Obrigkeiten, gespickt mit Sätzen wie „Der Himmel über der Mark hat viele Herrscher gesehen“, erntete in Stuttgart breites Unbehagen. Ungers Verteidigung: Nach der Wende habe man den Brandenburgern „regionale Identität“ stiften wollen. Warum beim RBB ausgerechnet ein Kölner Redaktionsleiter und beim MDR eine Journalistin aus München regionale Identität stiften wollten, hakte ein Kollege nach. Am Ende bekannte Unger, mit dem „Brandenburger“ ein Kunstprodukt geschaffen zu haben, das jetzt, nach der Fusion von SFB und ORB neue Probleme aufwerfe: Wie kann ich den türkischen Gemüsehändler in Kreuzberg, den Punk auf dem Prenzlauer Berg und den Arbeitslosen in der Uckermark wieder als Fernsehpublikum vereinen?

Noch interessanter allerdings war die Frage einer kanadischen Kollegin: „Was ist dabei ihr Sendeauftrag?“ In Kanada laute dieser Auftrag ganz klar: Das Demokratieverständnis erweitern und um Verständnis für die Einwanderer im Land werben. Apropos Demokratie. Bedenklich stimmt die Antwort der MDR-Redaktionsleiterin Katja Wildermuth auf die Frage des Veranstalters Peter Zimmermann: „Warum wurde beim MDR in den 90er Jahren nicht detailliert recherchiert, wie das Volksvermögens der DDR verscherbelt wurde?“ Antwort: „Wir waren noch nicht so orientiert, kurz nach der Wende“. Ein ganzer Sender, ein Jahrzehnt lang orientierungslos?

Bei der Tagung wurden jedoch auch Alternativen zum unpolitischen Folklorismus aufgezeigt. Didi Danquart erinnerte an bessere Zeiten, als der kritische Dokumentarfilm unter dem Einfluss der 68er Bewegung noch politisch agitieren und Zuschauer zum verändern gesellschaftlicher Verhältnisse mobilisieren wollte. Auch Ulrich Kienzle erinnerte nostalgisch, wie Minister schimpfend aus dem Regional-Studio flüchteten, weil sie scharfe journalistische Fragen nicht beantworten wollten. Rothschild präsentierte begeistert Ausschnitte aus Anti-Heimatfilmen: In Fritz Lehners „Schöne Tage“ (1982) schlägt ein brutaler Patriarch seinen Sohn vor der Kulisse idyllischer Alpenlandschaft. In heimeliger Kneipenatmosphäre wird das Kind zum Verspeisen regionaler Köstlichkeiten gezwungen. Alles schweigt, schaut tatenlos zu. Nur ein alter Mann zerdrückt solidarisch und mit Macht ein Bierglas in der Hand. Wenn das kein Happy End ist! Der Film ist österreichischer Herkunft.

 

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