Ein Polizeireporter berichtet über 20 Jahre im Boulevardjournalismus
Dies ist „das erste echte Enthüllungsbuch über deutsche Redaktionsstuben seit Wallraffs legendärer Bücher über die Bild-Zeitung“, steht im Klappentext. Was ist von einem Buch zu halten, das so für sich wirbt? Mich stört der falsche Dativ. Müsste es nicht „seit Wallraffs legendären Büchern“ heißen? Was soll’s, schon lese ich weiter im Klappentext: … selbst gemachte Erfahrungen bei der großen deutschen Tageszeitung … fast unglaubliche Begebenheiten aus der TV-Welt … Manipulation des Bürgers durch die Medien – das sind Satzfetzen, an denen ich hängen bleibe. Traut sich da wirklich wieder mal einer, über Internas des Boulevardjournalismus zu schreiben?
Neugierig schlage ich „Die Abrechnung – Deutschland, deine Journalisten“ auf – neugierig auch auf den Autor Udo Schulze. Der ist 42 Jahre alt, ein Kind des Ruhrgebiets und seit 20 Jahren Journalist – man könnte auch sagen: angelernter Polizeireporter. Einige Uni-Semester Politik, Jura und Psychologie und vier Wochen Praktikum reichten 1984 für den Berufseinstieg. Auf ein Volontariat hofft Schulze vergeblich. Was er als freier Mitarbeiter – zeitweise auch fest angestellt – bei WAZ und NRZ in Essen, Bild in Kettwig, Halle, Stuttgart und Aachen, B.Z. in Berlin und beim RTL-Fernsehen in Köln erlebt, macht den Kern des Buches aus.
Bereits im Vorwort wird der Leser aufgefordert: „Lehnen Sie sich bequem zurück, suchen Sie Halt im Sessel. Denn was jetzt kommt, ist traurige Realität. Eine Realität, wie ich sie nahezu jeden Tag erlebte und noch erlebe.“ Journalismus in Deutschland – das ist für Schulze „der Tummelplatz der Eitelkeiten, der Treffpunkt von Barbaren und Cholerikern, von Kranken und Diktatoren; ein Mekka der Gesetzesbrecher und ein Sammelbecken Asozialer.“ In den meisten Redaktionen träfen sich täglich „geballte Ladungen“ Selbstüberschätzung und Unfähigkeit. „Was morgens im Briefkasten steckt oder abends über die Mattscheibe flimmert, ist in nicht wenigen Fällen das Produkt von gefährlichen Patienten“, so Schulze.
Die Täter, die morgens um 11 Uhr schon den Rotwein kreisen lassen, sind Schulzes frühere Kollegen und Chefs. Für kaum einen – übrigens praktisch alles Männer – hat er ein gutes Wort übrig. Alle nennt er mit Namen, auch wenn es nicht immer die echten sind oder nur Initialen. Immer ist klar, zu welcher Redaktion sie gehören. Personalisierung erzeugt Glaubwürdigkeit – nicht nur im Boulevardjournalismus. Schulze versteht sein Handwerk. Seine „Abrechnung“ mit den deutschen Journalisten – nicht nur seinen unmittelbaren Kollegen, liest sich über weite Stecken wie ein Krimi: Tatort Redaktion. Schulze lässt durchblicken, dass er unter dem Druck in den Redaktionen oft gelitten hat. Als freier Mitarbeiter fühlte er sich aber immer als schwächstes Glied, das mitspielen musste. Mit diesem Buch traut er sich heute mehr. Das gilt auch für den Extrem-Verlag in Alsfeld, der als britische LTD nur schwer zu verklagen ist und sich im Übrigen darüber freut, dass das Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung bereits ein Exemplar bestellt hat.
Udo Schulze: Die Abrechnung
Extrem-Verlag
Alsfeld 2004
ISBN 3-935054-13-0
204 Seiten
19,80 Euro