Die Welt verändert sich real, nicht virtuell
Für Redakteure gehören PC und Internet mittlerweile zum alltäglichen Handwerkszeug. Doch wie so oft gilt: Journalisten wissen über (fast) alles etwas, aber über etwas Konkretes meist nichts. Wer diese Oberflächlichkeit in puncto moderne Kommunikation beheben möchte, dem sei das jüngste Buch aus der Telepolis-Reihe des Heise-Verlags empfohlen. Mit tiefem Einblick in Zusammenhänge und praktischer Fachkenntnis klärt der Diplom-Informatiker und Journalist Erik Möller seine Kollegen auf: Weniger über die Hardware, dafür umso mehr über freie Software, Webtagebücher (Weblogs) und alternative Online-Lexika (Wikimedia) – ihre Entstehung und Entwicklung.
Gar nicht oder nur zur Illustration des „Bösen“ kommt das kommerzielle Internet vor, also die Online-Angebote der etablierten Medien wie auch die Programme von Bill Gates & Co. Ebenfalls ignoriert der Autor, dass das Internet eben nicht nur ein Medium auf dem Sprung zum Massenmedium (wie die Klassiker Radio, Fernsehen, Zeitungen und Zeitschriften) ist, sondern auch individuelles Kommunikationsmittel (Mail / Internettelefonie), Handels- und Finanzplattform (Onlineshopping / -banking) sowie einfach nur zusätzlicher Transportweg traditioneller Medien wie Radio und TV. Genau diese, z.T. krude Mischung verschiedener Eigenschaften und Funktionen macht das Netz zu einem einzigartigen Instrument, das nur bedingt mit den anderen Medien vergleichbar ist.
Und: Es ist noch längst nicht, wie vom Autor behauptet, ein Massenmedium! Selbst in hochentwickelten Industrieländern erreicht das www nicht mal die Hälfte der Bevölkerung, geschweige denn, dass es so selbstverständlich von der Mehrheit genutzt wird wie die anderen Massenmedien. Von dem weniger entwickelten „Rest“ der Welt und seinen Milliarden Menschen ganz zu schweigen, dort sind PC und Internet heute mehr ein Statussymbol von Eliten, denn ein basisdemokratisches Medium. Vor diesen Tatsachen der realen Welt die Augen zu verschließen und schon im Titel von „heimlicher Medienrevolution“, die „die Welt verändert“ zu sprechen, offenbart die Schwäche des Buches. Oder kann jemand mal erklären, wie die vom Autor beklagten „sozialen Ungerechtigkeiten, Kriege und Menschenrechtsverletzungen“ durch Software wie Linux (im Gegensatz zu Microsoft), durch Weblogs (im Gegensatz zu spiegelonline) oder Wikimedia (im Gegensatz zu Brockhaus, Meyers oder Encyclopedia Britannica) besser verhindert werden sollen? Und wieso sollen Programmierer, Online-Journalisten und Webdesigner ihre Kreativität verschenken bzw. jämmerlich von Spenden leben (wie von Copyleft-Fan Möller gefordert), und nicht ihre geistigen Produkte bzw. Dienstleistungen verkaufen und damit als Urheber aus der Nutzung ihrer Rechte ihren Lebensunterhalt bestreiten?
So wirkt auch die von Möller erträumte „neue, realdemokratische Mediengesellschaft“ reichlich virtuell und wo sein Schlachtruf „Wir sind das Netz“ endet, kann jeder an der realen Entwicklung von „Wir sind das Volk“ seit 1989 nachvollziehen. Nichtsdestotrotz: Befreit vom ideologischen Ballast ist der jüngste Spross der Buchfamilie des Heise-Webflagschiffs Telepolis durchaus lesenswert – mit Gewinn nicht nur für Journalisten und Journalistinnen.
Erik Möller: Die heimliche Medienrevolution
Wie Weblogs, Wikis und freie Software die Welt verändern
Heise Zeitschriften Verlag GmbH & Co KG,
Hannover, 2005
Telepolis-Buchreihe,
219 Seiten, 19,00 Euro
ISBN 3-936931-16-X