Zaghafter Wandel in Chile

Das unabhängige Radio Bio Bio gehört zu den angesehensten Sendern

Die Medienlandschaft des südamerikanischen Landes ist zu großen Teilen im Besitz vermögender Familien und ihrer Wirtschaftsimperien. Doch neue Onlineportale und ein landesweiter Radiosender halten dagegen.

Studio von Radio Bio Bio (das einzige!) in Chiles Hauptstadt Santiago Foto: Eva Völpel
Studio von Radio Bio Bio (das einzige!) in Chiles Hauptstadt Santiago
Foto: Eva Völpel

Spricht Thomas Mosciatti über chilenischen Journalismus, fallen schnell die Worte „gigantische Korruption“. Nicht nur, weil im staatlichen Fernsehsender TVN Moderatoren Tütensuppen bewerben. „Das ist nur ein kleiner Ausdruck davon, wie verbreitet schlechter Journalismus ist“, sagt Mosciatti. Dem 62-Jährigen gehört mit seinem Bruder Nibaldo Radio Bio Bio, benannt nach einem Fluss im Süden Chiles. Ihr Vater baute das Radio ab 1966 auf. Heute arbeiten rund 300 Journalisten für den landesweiten Nachrichtensender aus Santiago. Weil Bio Bio keiner mächtigen ökonomischen Gruppe gehört und kritisch nachfragt, mauserte er sich zum angesehensten Sender des Landes. „Wir bemühen uns, die ganze Bevölkerung zu repräsentieren. Aber die Armen sind wichtiger für uns, weil ihre Stimme zu wenig gehört wird“, sagt Mosciatti. So wie sich in Chile der Reichtum in den Händen weniger konzentriert, ist auch die Medienlandschaft zu großen Teilen im Besitz vermögender Familien und ihrer Wirtschaftsimperien. Reporter ohne Grenzen spricht von einer „exzessiven Medienkonzentration“.

Im Alltag sind Leser vor allem auf die Print- oder Onlineprodukte der Gruppen Mercurio und Copesa angewiesen. Sie sichern sich mit Regional- und Klatschlättern sowie den überregionalen Tageszeitungen El Mercurio und La Tercera über 80 Prozent der Leserschaft und des Anzeigenmarktes. El Mercurio und La Tercera sind die Flaggschiffe der extrem wirtschaftsliberalen Elite. Beim Mercurio bestimmen seit über 130 Jahren die Edwards. Die Copesa-Gruppe gehört Álvaro Saieh. Er besitzt Banken, Investmentfirmen, Hotels, eine Supermarktkette und war ein „Chicago Boy“, einer der Gefolgsleute des Ökonomen Milton Friedman, dessen neoliberale Reformen Diktator Pinochet nach dem Putsch von 1973 bis 1990 umsetzte.
Wenig Vielfalt bieten auch Fernsehen und Radio. 60 Prozent der Radiofrequenzen kontrolliert die spanische Prisa-Gruppe. Und zwei der vier wichtigsten kostenlosen Fernsehkanäle gehören chilenischen Elitefamilien. Megavisión etwa ist in den Händen der Gruppe Bethia von Liliana Solari. Sie ist Großaktionärin von Immobilienunternehmen, der Fluglinie LAN und des Warenhausimperiums Falabella. Canal 13 gehört zu zwei Dritteln Chiles reichster Familie, den Luksic. Ihr Geld haben sie mit Banken, Forstwirtschaft und dem Kupferabbau gemacht. Auch Chiles Präsident Sebastián Piñera, der seit 2010 mit einer rechten Parteienkoalition regiert, mischte bis Amtsantritt im TV-Geschäft mit. Die privaten Sender füttern ihr Publikum mit reißerischen Crimestories und voyeuristischen Sozialreportagen. Schwerer wiegt für die bekannte chilenische Journalistin María Olivia Mönckeberg aber die inhaltliche Kastration: „Man findet keine Themen, die den Besitzern oder ihrem Netzwerk aus Freunden und Geschäftspartnern aufstoßen würden. Viele Journalisten üben Selbstzensur.“ Es gibt auch direkte Zensur. René Cortázar, Vorstandsvorsitzender bei Canal 13, dampfte vor ein paar Monaten eine halbstündige Reportage über die Diskriminierung von Hausmädchen auf fünf Minuten ein. Als Chef des staatlichen Senders TVN hatte Cortázar früher versucht, kritische Berichte zu verhindern, beispielsweise über die CIA-finanzierte Unterstützung des Mercurio als Kampfblatt gegen den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende.
Fragt man Radiounternehmer Mosciatti, warum es das Mitte-Links-Bündnis Concertación, das ab 1990 zwei Jahrzehnte regierte, versäumt hat, das Medienmonopol aufzubrechen, sagt er: „Die Concertación hat die kritischen Medien der Diktaturzeit absichtlich sterben lassen. Als sie am Ruder war, brauchte sie keine kritischen Stimmen mehr.“ Untergegangen sind etwa die Tageszeitung La Época oder Zeitschriften wie Análisis, Cauce oder APSI. Sie hätten nach der Diktatur, während der sie mit Geldern aus dem Ausland überlebten, Unterstützung für einen Neustart gebraucht, sagt Mosciatti. Und ein Stück vom üppigen Anzeigenmarkt der Regierung. Doch die Concertación lenkte die Gelder nicht um. Bis heute fließen jedes Jahr fünf Millionen US-Dollar an die früheren Diktatur-Unterstützer Mercurio und Copesa.
Aber es gibt zaghaften Wandel. Nach wie vor existieren unabhängige Stadtteilradios. Vor allem aber drosseln Jugendliche zwischen 16 und 24 Jahren den Fernsehkonsum zugunsten des Internets. Das kommt der Onlineausgabe des Radios der Universität von Chile zugute. Das Projekt, Chefredakteur ist der angesehene Journalist und Análisis-Gründer Juan Pablo Cárdenas, berichtet tagesaktuell kritisch über Politik und schaut genau auf die sozialen Bewegungen.
Auch El Mostrador profitiert von neuen Lesegewohnheiten. Das Onlineportal aus Santiago wurde 2000 nach der Verhaftung Augusto Pinochets in London gegründet. Chefredakteur Mirko Marcari krempelte es ab 2009 um. „2011, während der monatelangen Studenten- und Schülerproteste, explodierten unsere Leserzahlen“, sagt er. Mittlerweile lesen rund eine Million User im Monat – Chile hat 17 Millionen Einwohner – die von neun Journalisten recherchierten Hintergrundartikel, bissigen Kommentare und Kolumnen über soziale Konflikte, das Parlamentsgeschehen, Umwelt- und Energiepolitik. Marcari will den Wandel Chiles vorantreiben. „Wir machen Journalismus, der von der Energie der sozialen Bewegungen lebt. Aber wir richten uns vor allem an die aufgeklärte Elite und politische Entscheidungsträger. Da werden die Regeln bestimmt.“


Links

www.elmostrador.cl
www.radiobiobio.cl
http://radiouchile.cl

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