Der Regisseur Stanislaw Mucha ist berühmt für seinen Blick für Skurriles, Sonderbares, Schräges. Das hat ihn seinerzeit bekannt gemacht mit „Absolut Warhola“ auf den Spuren der Familie Andy Warhols. Das verführt ihn aber bisweilen auch dazu, die Sache, sein Thema, nicht nur leicht, sondern zu leicht zu nehmen, wie etwa in „Trista – Eine Schwarzmeerodysse“. Mit „Kolyma“ ist ihm nun wieder ein Film gelungen, in dem er die Balance zwischen dem ernsten Stoff und einer sonderbaren, manchmal rätselhaften Realität findet.
„Kolyma“ ist der Name eines Flusses in Nordsibirien, der sich mehr als 2000 Kilometer bis nach Jakutien zieht. Nach diesem Fluss benannt ist eine Straße, die R504 Kolyma, bekannt wegen der Arbeitslager, in denen Millionen Menschen ums Leben kamen, im Bergbau, in den Minen. Auch die Straße selbst ist von Sträflingen gebaut worden. Die Einheimischen nennen sie „Straße der Knochen“.
Auf dieser Straße reist nun Stanislaw Mucha mit seinem Team und trifft Menschen. Stoische Eisfischer und Künstler, die an riesigen Eisblöcken schnitzen. Goldgräber, die mit primitivsten Mitteln arbeiten, als sei Clondyke wieder auferstanden. Er trifft auf einen ehemaligen Major, der mal ein Hooligan war und ganz offenbar militärische Karriere gemacht hat ohne den Charakter zu verlieren. Auf einen ehemaligen Mörder, denn in die Lager kamen auch viele Kriminelle. Mucha spricht mit einem Mann, der mit den aus Lagerresten verbliebenen Dingen ein kleines Museum aufgebaut hat, und mit einer jungen Frau am Kiosk, die mit dem Wort Gulag nichts anfangen kann und immer Gulasch versteht. Und mit einem verrückten Physiologen, der seinen alten blinden Vater mittels heftiger Stromstöße verjüngen will – hier zeigt sich Muchas Vorliebe fürs Skurrile, für diese Szenen nimmt er sich viel Zeit.
Eine sonderbare Mischung von Individuen also, Abgehängte und Hängengebliebene, mit der Landschaft verwachsene Menschen und solche, die stets fremd geblieben sind. Alles weit weg von Moskau. Mucha fragt nach Putin, hört meist Zustimmung. Dazwischen treten patriotische Tanz- und Gesangsgruppen auf, Kinder und Jugendliche, die den Eindruck erwecken, hier sei auch die sowjetische Kultur im Permafrost tiefgekühlt und wieder aufgetaut worden.
„Kolyma“ ist ein Roadmovie der besonderen Art, besonders, weil sich der Autor bei aller Liebe zum Skurrilen nicht dem historischen Druck des Ortes entziehen kann und will. Immer wieder Fahrten über die vereiste Straße und die Mahnung des ehemaligen Häftlings: „Vergesst nicht, dass ihr über einen Friedhof fahrt“. Landschaften, faszinierend in ihrer kühlen Schönheit, aber auch zerrissen vom Bergbau, ein ehemaliges Uranbergwerk, ein Friedhof eigens für die Lagerkommandanten und ihre Familien. An den Straßenrändern die verfallenen Reste der Lagergebäude. Eine entlegene Region, nicht nur räumlich, sondern auch kulturell und ideologisch, in der die Vergangenheit noch Gegenwart ist.
In einer Schlüsselszene gegen Ende spricht Stanislaw Mucha mit einem Mann mit zornigem Blick, der plötzlich aus der Haut fährt, eine ungeheure Philippika gegen den russischen Staat loslässt und den ihm offenbar verwehrten Respekt einfordert. Der Ex-Soldat ist in seinem Zorn auf das zerstörte Leben nur mit Mühe durch Lieder und eine melancholische Harmonika zu beruhigen. Und da ist dann noch der Schamane, bemerkenswert unschamanenhaft und realistisch, der auf seine Art mit dieser Vergangenheit umgeht, ohne sich ihr zu überantworten. Zu 99 Prozent, sagt er, wüssten wir nicht, was in den Lagern wirklich geschah. Menschen am Ende der Welt und eine Geschichte darüber, was Menschen Menschen antun können.
„Kolyma“ von Stanislaw Mucha läuft ab 21.6.2018 in einigen ausgewählten Kinos