Umfrage: Pressefreiheit durch Mangel an Zeit für Recherche gefährdet
Während sich der Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger (BDZV) und vor allem der ehemalige Verfassungsrichter Udo di Fabio nicht entblöden, einen gesetzlichen Mindestlohn für Zeitungszusteller/innen als Bedrohung der Pressefreiheit und damit „verfassungswidrig” zu denunzieren, sieht das redaktionelle Führungspersonal der Tageszeitungen ganz andere Gefahren für dieses Grundrecht in Bundesdeutschland.
Nicht etwa irgendwelche „gesetzlichen Vorgaben” sind demnach das Problem. Vielmehr steht an der Spitze der Bedrohungen der Mangel an Zeit für eigene Recherchen, der „die Pressefreiheit in Deutschland stark gefährdet” bzw. „gefährdet”. So schätzen es nicht weniger als 83 Prozent von 432 Chefredakteuren, Redaktions- und Ressortleiter/innen ein, die dem Institut für Demoskopie Allensbach im März und April 2014 bei einer Befragung Rede und Antwort standen.
Und es waren nicht etwa kritische Medienwissenschaftler oder die Gewerkschaften, die die Befragung der verantwortlichen Redakteur/innen aus den Ressorts Politik, Wirtschaft und Lokales von 230 Zeitungen in Auftrag gegeben hatten, sondern die Verleger-eigene „Stiftervereinigung der Presse” wollte die „Pressefreiheit in Deutschland” und die „Einflussnahmen auf die journalistische Arbeit” unter die Lupe genommen sehen – und zwar aus dem Blickwinkel der redaktionellen Führungskräfte.
Wenn sich nun Zeitungsunternehmer und Konzernspitzen ernsthaft mit den Ergebnissen der Allensbach-Studie auseinandersetzen wollen, sollten sie sich nicht mit der ersten Seite der Kurzfassung und dem Schaubild Nummer 1 zufriedengeben. Daraus geht nämlich hervor, dass 93 Prozent der Befragten zunächst einmal höflich bestätigen, die Pressefreiheit in Deutschland sei generell „gut” bzw. „sehr gut” verwirklicht. Aber dann! Dann folgt – in scheinbarem Widerspruch zu dieser Grundsatzaussage und illustriert mit den aufschlussreichen Schaubildern Nummer 2 bis 12 – eine Schilderung des wirklichen Lebens in den Zeitungsredaktionen, dass man aus dem Staunen nicht herauskommt – Staunen wegen der Offenheit, mit der die Probleme benannt werden, und wegen des breiten Problembewusstseins.
Beeinflussung
Nach dem Allensbach-Papier haben nämlich „60 Prozent der Zeitungsjournalisten bereits persönlich Behinderungen oder Beeinflussungen ihrer Arbeit erlebt, die sie als Eingriff in die Pressefreiheit empfunden haben”. Als da wären: dass wichtige Anfragen von öffentlichem Interesse hinhaltend oder gar nicht beantwortet wurden; dass bereits gegebene Interviewantworten vor ihrer „Freigabe” stark verändert wurden; dass Unternehmen, Verbände oder Politiker die Berichterstattung in ihrem Sinne zu lenken versucht oder Recherchen behindert haben.
Laut Allensbach-Studie hat fast jede/r zweite Befragte „den Eindruck, dass die Einschränkungen und Behinderungen der Pressefreiheit in den letzten Jahren zugenommen haben”. Und dass es statt Zuckerbrot immer öfter die Peitsche gibt: Seltener geworden sind demnach die Versuche, durch die Gewährung von „Vorteilen und Vergünstigungen eine wohlwollende Berichterstattung zu erreichen”; stark zugenommen hat dagegen der wirtschaftliche Druck auf Zeitungsverlage mit dem Ziel, die Berichterstattung zu beeinflussen. „Aus Sicht von Politik- und Wirtschaftsjournalisten versuchen vor allem Unternehmen, die Berichterstattung auf inakzeptable Weise zu beeinflussen, mit deutlichem Abstand gefolgt von Verbänden und Politikern”, fasst Allensbach zusammen: „Unternehmen gelten unter Journalisten auch als die am wenigsten zuverlässige Informationsquelle. Nur 29 Prozent sehen Auskünfte von Unternehmen (…) als zuverlässig an, Auskünfte von Politikern gelten 35 Prozent der Journalisten als in der Regel zuverlässig.”
Das größte Problem für die „Pressefreiheit in Deutschland” ist, wie erwähnt, aus Sicht von 83 Prozent der befragten journalistischen Führungskräfte angesichts tiefgreifender struktureller Umbrüche in der Zeitungsbranche und nach dem „Einsparen” vieler Stellen der eklatante Zeitmangel in den Redaktionen. 74 Prozent beklagen, so die Studie, dass auch sie selber „oft zu wenig Zeit für Hintergrundrecherchen und das Schreiben ihrer Artikel” haben, nur knapp jede/r Vierte hat dafür in der Regel genügend Zeit. Zwei Drittel konstatieren laut Studie, dass „sie heute weniger Zeit für Recherchen und das Schreiben ihrer Artikel haben als noch vor zehn Jahren”.
Zweitgrößtes Problem ist die Rücksicht, die Journalist/innen nach eigenem Bekunden auf wirtschaftliche Interessen des eigenen Verlagshauses nehmen müssen: 77 sehen die Pressefreiheit dadurch „etwas gefährdet” oder „stark gefährdet”. Die teilweise vorhandene Monopolstellung von Regionalzeitungen in ihrem Verbreitungsgebiet stufen 69 Prozent als mehr oder weniger große Gefahr für die Pressefreiheit ein, so die Autoren der Studie. Erst mit deutlichem Abstand folgen die digitalen Ausspähmöglichkeiten, die heutzutage zur Verfügung stehen, und die mangelnde Auskunftsbereitschaft staatlicher Stellen (siehe Schaubild).
Verschwimmende Grenzen
Schließlich und endlich die Rolle von PR-Agenturen und PR-Abteilungen: 86 Prozent der von Allensbach Befragten beobachten, dass die Versuche von PR-Agenturen und PR-Abteilungen, Einfluss auf die Berichterstattung zu nehmen, stark oder etwas zugenommen haben. 79 Prozent stimmen der Formulierung zu: „Die Grenzen zwischen PR und Journalismus verschwimmen immer mehr und PR-Material findet immer öfter ungefiltert seinen Weg in die Medien.” Und was die künftige Entwicklung der Probleme angeht, sehen die meisten führenden Politik-, Wirtschafts- und Lokalredakteur/innen schwarz: Die Einschränkungen und Behinderungen der Berichterstattung nähmen künftig eher noch zu, fürchten 54 Prozent; ganze drei Prozent glauben, dass es noch einmal besser wird.
Vor solchem Hintergrund feierten bei einer gemeinsamen Konferenz Verlegerverband und Bundeszentrale für politische Bildung am 3. Juni in Berlin den 65. Geburtstag des Grundgesetzes: Es „sprachen renommierte Medienexperten über die im Grundgesetz festgeschriebene Pressefreiheit”, formuliert der BDZV auf seiner Website, wo bei dieser Gelegenheit auch die Studie der „Stiftervereinigung der Presse” am Rande erwähnt wird. Allensbach-Chefin Renate Köcher persönlich stellte sie während der Konferenz vor. Laut BDZV-Text hob sie diese Aussage eines befragten Journalisten hervor: „Zur Zeit findet eine Renaissance der Printmedien statt, sie werden neu anerkannt, als seriöser empfunden”. Print sei unverzichtbar, so Köcher. Dann ist ja – scheinbar oder anscheinend – doch alles in Ordnung.
Lesetips
Die Kurzfassung der Internetstudie „Pressefreiheit in Deutschland: Einflussnahmen von außen auf die journalistische Arbeit”
ist im Internet zu finden unter
www.stiftervereinigung.de/ Studien-und-Texte-zum-Download.html
– ebenso die Vorgänger-Studie zum Thema
„Einschränkungen der Presseberichterstattung aus Sicht von Kultur- und Sportjournalisten”.