Männer sterben in fünf Millionen Jahren aus! Laut einer umstrittenen Studie der australischen Wissenschaftlerin Jenny Graves wird das Y-Chromosom eines Tages endgültig verschwinden und der männlichen Spezies zum genetischen Verhängnis. Schaut man sich in der Comic-Szene um, so bewahrheitet sich dieses Zukunfts-Szenario offenbar bereits in der Gegenwart. Denn hier sind die Frauen auf dem Vormarsch, wie die Ausstellung „Vorbilder*innen – Feminismus in Comic und Illustration“ zeigt. Sie läuft aktuell im Berliner Museum für Kommunikation und wandert weiter.
Wurden bis Ende der 1990er Jahre Comics noch vorwiegend von Männern gestaltet, übernehmen Frauen inzwischen verstärkt die Federführung. Und das sieht man auch! Auf den Bühnen von Preisverleihungen, auf Bestseller-Listen oder in den leitenden Positionen von Verlagen – Frauen dominieren mittlerweile häufig das Publikum. Gleichzeitig verschieben sich die Comic-Inhalte, seitdem sie vermehrt durch Frauen festgelegt werden. Daraus ergeben sich völlig neue Erzählperspektiven und vielfältigere Figuren, neue Geschichten entstehen, Tabus werden gebrochen. Die Ausstellung setzt komplexe Frauen in Szene, die sich in allen Lebensbereichen behaupten. Aber auch der künstlerische Entstehungsprozess des Comics an sich verändert sich – immer mehr „Girls‘ Clubs“ werden gegründet. Zeitgenössische Comic-Illustratorinnen schließen sich in Kollektiven zusammen und stärken sich gegenseitig mit dem Ziel, Aufklärungsarbeit zu leisten: Was muss sich an unserem Zusammenleben ändern, um ein gleichberechtigtes und freies Miteinander auf allen Ebenen zu ermöglichen, unabhängig von Geschlecht, Sexualität und Körper?
So entstand 2004 beispielsweise das Hamburger Kollektiv „SPRING“, das jährlich eine Anthologie veröffentlicht und sich mit erlernten Geschlechterbildern und dem facettenreichem Erleben von Sexualität auseinandersetzt.
Weltreise durch eine bunte Gesellschaft
In der Ausstellung selbst werden Vorbilder aufgezeigt und analysiert, soziale Verhaltensweisen kritisch reflektiert sowie Vorurteile provokant in Bildsprache übersetzt, um dem Publikum möglichst kontrastreich und nicht immer auf ästhetische, aber authentische Weise die Augen für unsere Gesellschaft zu öffnen.
Gezeigt werden Werke von Pénélope Bagieu, Natalia Batista, Alison Bechdel, Gabrielle Bell, Tracy Chahwan, Karolina Chyzewska, Aminder Dhaliwal, Sheree Domingo, Julie Doucet, Anke Feuchtenberger, Aisha Franz, Lisa Frühbeis, Jul Gordon, Pia Guerra, Helena Janečić, Katja Klengel, Ilki Kocer, Ulli Lust, Rutu Modan, Diane Obomsawin, Katharina Röser, Rokudenashiko, Posy Simmonds, Liv Strömquist, Burcu Türker, Judith Vanistendael, Brian K. Vaughan, Birgit Weyhe, Stephanie Wunderlich und Barbara Yelin.
In die acht Themenbereiche „Body & Sex Positive“, „Gender Reverse“, „Autobiografie“, „Strong Female Lead“, „Aktivistinnen & Anarchas“, „Girls‘ Club“, „Wissen & Historie“ und „Biografie“ gegliedert, nimmt die Ausstellung ihre Besucher*innen mit auf eine internationale Reise durch unsere bunte Gesellschaft: Dabei beschäftigen sich die 30 Künstler*innen mit Vorbilder*innen in der Comic-Szene und gehen den zentralen Fragen nach: Welche Auswirkungen hat es eigentlich, wenn Vorbilder größtenteils männlich sind? Und inwiefern spielt Feminismus in Comics eine Rolle?
Den Auftakt macht die in Kanada ansässige Autorin, Illustratorin und Animationsfilmerin Diane Obomsawin (*1959) – bekannt unter dem Pseudonym Obom. Ihre Werke sind direkt dem ersten Themenbereich „Body & Sex Positive“ zugeordnet. Kein Wunder, denn schließlich war Obom schon seit Beginn der 90er Jahre in der Underground-Szene Québecs aktiv.
Mit ihrem in 2014 erschienenem Buch „J’aime les filles“ (deutsch: „Ich begehre Frauen“) gelang ihr der Durchbruch auch über die Grenzen Kanadas hinaus. In der Ausstellung ist ihr Animationsfilm, für den sie 2016 beim Ottawa International Animation Festival ausgezeichnet wurde, zu bewundern. In „I Like Girls“ setzt sie den Fokus auf lesbische Lebenswelten, in denen junge Frauen in kurzen humorvollen Episoden über ihr Begehren, ihr Verliebtsein und ihre ersten homosexuellen Erfahrungen berichten.
Geschlechterrollen ins Gegenteil verkehrt
Das Thema, das mich jedoch am meisten beschäftigt hat, war „Gender Reverse“. Wie der englische Begriff schon erahnen lässt, werden hier stereotype Geschlechterrollen gebrochen, indem sie umgekehrt werden: Künstler*innen erschaffen fiktionale Szenarios, in denen sie Klischees dekonstruieren und falsche Vorbilder aufdecken. Inspiriert von einer der berühmtesten Comic-Heldinnen, Sailor Moon, ruft Natalia Batista in „Sword Princess Amaltea“ eine Welt ins Leben, in der Prinzessinnen Stärke beweisen und Prinzen beschützen müssen. Aber auch die Hypothese der australischen Wissenschaftlerin Jenny Graves findet sich wieder. In der dystopischen Erzählung „Y: The Last Man“ (2002-2008) von Pia Guerra und Brian K. Vaughan sind alle Männer ausgestorben – bis auf Yorick und sein Äffchen Ampersand. Als letztes männliches Team stolpern sie hilflos durch ihre apokalyptische neue Welt, während die Agentin 355 Yotick die beiden immer wieder vor den Killer-Amazonen retten muss.
Die Wanderausstellung des „Internationalen Comic-Salons Erlangen 2021–2022“ läuft im „Museum für Kommunikation Berlin“ noch bis zum 10. Oktober 2021. Die inspirierenden Werke der 30 Künstler*innen können danach noch vom 29. Oktober 2021 bis 24. April 2022 im „Museum für Comic und Sprachkunst“ in Schwarzenbach sowie vom 16. bis 19. Juni 2022 beim „20. Internationalen Comic-Salon Erlangen“ bewundert werden.
Mehr Infos unter: mfk-berlin.de/vorbilderinnen