Ein Mangel an Grundwissen über das Gesundheitswesen und damit verbundene politische und wirtschaftliche Interessen hat in den letzten zwei Jahren zu viel schlechter Berichterstattung geführt, meinen die Journalistinnen Catherine Riva und Serena Tinari. Sie haben im Auftrag des globalen Investigativjournalismus-Verbandes ein Handbuch für kritisches Recherchieren zu Medizinthemen veröffentlicht.
„Zur Gesundheitsversorgung zu recherchieren ist komplex und herausfordernd. In diesem Feld zu berichten bedeutet, lange Dokumente zu lesen und sich mit medizinischem Jargon vertraut zu machen.“ Mit diesen Feststellungen beginnt das englischsprachige Handbuch „Investigating Health and Medicine“, das im November von der gemeinnützigen Schweizer Organisation „Re-Check“ online veröffentlicht wurde.
Auf 90 Seiten lassen uns Catherine Riva und Serena Tinari am Erfahrungsschatz teilhaben, den sich die beiden Journalistinnen im Lauf der Jahre bei Investigativrecherchen zu medizinischen Themen erarbeitet haben. Das Handbuch haben sie im Auftrag des Global Investigative Journalism Network erstellt. Dieses Netzwerk besteht nach eigenen Angaben aus fast 230 Gruppen in 88 Ländern und hat Angestellte in 24 Ländern. Laut Selbstdarstellung verbreitet es online und auf Veranstaltungen journalistische Werkzeuge, um Machtmissbrauch zu bekämpfen. In Deutschland wird es vom Netzwerk Recherche vertreten.
Catherine Riva und Serena Tinari gründeten „Re-Check“ 2015 und haben seitdem Vorträge auf journalistischen und medizinischen Konferenzen gehalten. In ihrem eigenen Internetauftritt veröffentlichen sie unbezahlte Recherchen zu medizinischen Themen, die von nicht-kommerziellen Medien übernommen werden dürfen. Die Artikel zu den Covid-Zertifikaten und dahinter stehenden weitergehenden Absichten stehen auch auf Deutsch zur Verfügung.
In einem Langzeitprojekt arbeitet „Re-Check“ mit Wissenschaftlern zusammen an der Aufklärung von „Ghost Management“, was ein Begriff für das heimliche Verbreiten von Ideologien zu kommerziellen Zwecken ist. Im September 2021 waren Riva und Tinari Gründungsmitglieder der Initiative Public Health and Medical Professionals for Transparency, die mittlerweile bei der US-amerikanischen Medikamentenzulassungsbehörde FDA die Rohdaten der Zulassungsstudien für den Covid-Impfstoff von Biontech/Pfizer eingeklagt hat (die allerdings erst nach und nach veröffentlicht werden). Auch eine Möglichkeit zum anonymen und verschlüsselten Einschicken von Hinweisen bietet „Re-Check“.
Tipps zum Thema Covid
Schon im Vorwort des Handbuchs nehmen die Autorinnen Bezug auf die „Covid-19-Krise“, wegen der „viele plötzlich zu medizinischen Investigativreporter*innen werden mussten“, was „frustrierend und voller Fallstricke“ sein könne. Deshalb folgen auf sechs Seiten Recherchetipps zum Thema Covid. Gewarnt wird vor kontextlosen Zahlen, Modellierungen von Infektionsausbreitungen, Pressemitteilungen von Regierungen und Firmen sowie vor Ländervergleichen. Berücksichtigt werden sollten hingegen: andere medizinische Fragen, die beim Fokus auf Covid eventuell ausgeblendet werden, Langzeitfolgen von Regierungsmaßnahmen, unabhängige Stellen mit Informationen zu Impfstoffen sowie Vergleiche mit Epidemien und deren Bekämpfung in der Vergangenheit. Das Vorwort endet mit der Aufforderung, nicht „dem Hype“ zu verfallen und sich bewusst zu machen, dass „Medien- und Regierungsbotschaften während dieser ganzen Krise emotional beladen waren“.
Noch kritischer drückte sich Re-Check in seinem ebenfalls englischen E-Mail-Newsletter von November aus: „Die Covid-19-Ära könnte als die am wenigsten faktengestützte Episode der Öffentlichen Gesundheit unseres Zeitalters in Erinnerung bleiben.“ Regierungen verhängten Zwangsmaßnahmen, ohne dafür einen „soliden Hintergrund“ als Erklärung zu präsentieren. Das Gegenmodell dazu soll die evidenzbasierte Medizin (EBM) sein. „EBM ist ein Ansatz, der der Ethik und den Standards von investigativem Journalismus entspricht“, ist im Handbuch zu lesen. Beiden müsse es um Genauigkeit und größtmögliches Überprüfen von Informationen gehen, was sich auch im Namen „Re-Check“ ausdrücke, erklären die Autorinnen gegenüber M online. Im erwähnten Newsletter empfehlen sie zur weiterführenden Lektüre einen Artikel, der im Auftrag des deutschsprachigen EBM-Netzwerks Fehler in Wissenschaft und Journalismus in Sachen Corona-Politik kritisiert.
Scharfe Beobachtung empfohlen
Das Handbuch beschäftigt sich in fünf Kapiteln sowohl mit Medikamenten als auch mit Geräten und Hilfsmitteln. Um deren Zulassung geht es im ersten Kapitel. Ein Hinweis dabei: Medizinische Geräte und Hilfsmittel seien „unterreguliert“, und somit besonders scharf zu beobachten.
In Kapitel 2 werden Maßstäbe zur Interpretation medizinischer Studien vermittelt. Eine Empfehlung dabei ist, bezüglich der Wirksamkeit einer medizinischen Maßnahme mehr über absolute Zahlen zu sprechen, als über Prozente: „Das relative Risiko ist oft spektakulärer als das absolute, und deshalb aus Sicht von Firmen oder Befürworter*innen einer Gesundheitskampagne überzeugender“, halten die Autorinnen fest. Vor Jahren gab es dafür das auch im Handbuch erwähnte Beispiel der Brustkrebsvorsorge. Solche Vorsorgeuntersuchungen reduzierten die Zahl der Brustkrebstoten um über 20 Prozent, lauteten früher die Aussagen mancher Fachartikel. Die Daten dahinter: Von 1000 Frauen starben so statt 5 nur 4 an Brustkrebs. Bezogen auf die 5 war es also eine Reduzierung um 20 Prozent, tatsächlich wurden aber nur 0,1 Prozent aller untersuchten Frauen gerettet. Gleichzeitig führten falsche Diagnosen nach Vorsorgeuntersuchungen bei 5 von 1000 Frauen zu unnötigen Brustoperationen bis hin zu Amputationen.
Ähnlich ist es mit den Corona-Impfstoffen. Deren Schutzquote gegenüber dem Tod wurde von der Bundesregierung und unkritischen Medien oft auf 90 Prozent und mehr beziffert. Die dahinter stehenden Zahlen aus der Zulassungsstudie belegten aber ungefähr das: In der ungeimpften Gruppe starben 0,4 Prozent an Covid, in der geimpften 0,04 Prozent, also 90 Prozent weniger. Anders betrachtet: Die Impfung rettet „nur“ 0,36 Prozent der Bevölkerung. Es ist angesichts dieser Zahlen sogar möglich, dass viele Menschen die Infektion nicht dank der Impfung überstehen, sondern sie ohnehin überlebt hätten.
In Kapitel 3 wird das Problem der Beeinflussung von medizinischer Praxis, Forschung und den dazugehörigen Diskursen durch Pharmafirmen ausgerollt. Man könne sich nicht darauf verlassen, dass Interessenkonflikte von Fachmagazinen offengelegt würden, lautet das Fazit zu den Gegenmaßnahmen.
Kapitel 4 erklärt, was bei der Recherche zu Nebenwirkungen zu beachten ist. „Nur ein winziger Teil von Nebenwirkungen wird berichtet“, wenn deren Meldung – wie in Deutschland – auf freiwilliger Basis erfolgt. Und im kleinen fünften Kapitel gibt es allgemeine „Tipps zu Fallen, Hype und Ethik“. Darin wird unter anderem auf den Umgang von Pharmafirmen mit kritischer Berichterstattung hingewiesen.
Der digitale Charakter des Handbuchs ermöglicht, die vielen enthaltenen Internetlinks zu Artikeln und Organisationen direkt zu nutzen. Aber auch drei Dutzend Bücher werden am Ende aufgelistet. Riva und Tinari ist so eine sehr informationsreiche, aber auch ernüchternde, wenn nicht sogar erschreckende Einführung in die Welt der medizinischen Akteure gelungen, die deutlich macht, dass kritischer Journalismus da noch viele Themen bearbeiten kann. Eine deutsche Ausgabe fehlt bislang übrigens nur mangels Finanzierung für die Übersetzung.