Glaubwürdigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks schwer angeschlagen
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk steckt in einer Legitimationskrise. Immer neue Enthüllungen vor allem der Springer-Medien „Business Insider“ und „Bild“ über mutmaßlichen Filz und Verschwendung in verschiedenen ARD-Anstalten gefährden die Glaubwürdigkeit des öffentlich-recht-lichen Rundfunks. Rundfunkpolitische Folgen sind einstweilen noch nicht absehbar. Zur Rückgewinnung des Vertrauens sind nachhaltige Konsequenzen und Reformen dringend notwendig.
In Verruf geriet vor allem der Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB): das „System gegenseitiger Gefälligkeiten“ zwischen Intendantin Patrizia Schlesinger und dem Verwaltungsratschef Wolf-Dieter Wolf, partiell ausgehebelte Compliance-Regeln, das „Millionengrab“ Digitales Medienhaus, ein überteuerter Umbau der Intendanz-Etage, luxuriöser Dienstwagen, dienstlich abgerechnete Essen in Schlesingers Privatwohnung, ein umstrittenes Boni-System, die Inflation von AT-Verträgen…. Bisherige Konsequenzen: Fristlose Entlassung Schlesingers, Rücktritte von Verwaltungsratschef Wolf und der Rundfunkratsvorsitzenden Friederike von Kirchbach. Es gibt Ermittlungen der Generalstaatsanwaltschaft gegen Schlesinger und Wolf wegen des Verdachts der Untreue und der Vorteilsannahme und eine gemeinsame Prüfung der RBB-Finanzen durch die Landesrechnungshöfe von Berlin und Brandenburg. Die Wahl der WDR-Verwaltungsdirektorin Katrin Vernau zur „Interimsintendantin“ gestaltete sich holperig: Trotz alleiniger Kandidatur – gegen die Proteste der Freienvertretung – waren am 7. September zwei Wahlgänge nötig, um die gelernte Unternehmensberaterin ins Amt zu hieven.
Die „zweite Staffel“ der Skandalchronik spielt im NDR. Anders als beim RBB geht es im Norden nicht um Mittelverschwendung und mutmaßliche Vorteilsannahme, sondern – schlimmer – um die gezielte Beeinflussung der journalistischen Berichterstattung im Dienste politischer Interessen. Ein „politischer Filter“, aufgesetzt von der Redaktionsleitung der Abteilung „Politik und Recherche“ im Landesfunkhaus Schleswig-Holstein, mit dem kritische Geschichten über Landesvater Daniel Günther und andere führende CDU-Politiker verhindert wurden. Bisherige Konsequenzen: Entbindung des Chefredakteurs Norbert Lorentzen und der Abteilungsleiterin Politik Julia Stein von ihren Aufgaben – „auf eigenen Wunsch“. Und: Es gelte die Unschuldsvermutung. Zudem nahm Landesfunkhausdirektor Volker Thormählen „einen Monat unbezahlten Urlaub“.
Einen mutmaßlichen Fall von Filz und Vetternwirtschaft gibt es offenbar im NDR-Funkhaus Hamburg. Dort soll Landesfunkhausdirektorin Sabine Rossbach ihre Position genutzt haben, Familienmitgliedern Vorteile zu verschaffen. Unter anderem geht es um die Platzierung von Themen einer PR-Firma ihrer Tochter im Programm des Hamburg-Journals. Auch soll sie ihrer Tochter zur Festanstellung im Sender verholfen haben. Bisherige Konsequenzen: 70 Mitarbeiter*innen sprachen in einem Offenen Brief Rossbach ihr Misstrauen aus. Die Anti-Korruptionsbeauftragte des Senders prüft. Offenbar war der NDR-Geschäftsleitung der Korruptionsverdacht seit mindestens fünf Jahren bekannt. Seit dem 9. September lässt Rossbach ihr Amt ruhen – vorerst bis zur Klärung der Vorwürfe.
Untreue und Verschwendung
Auch beim Mitteldeutschen Rundfunk (MDR) machten sich leitende Angestellte krummer Geschäfte schuldig. Derzeit steht in Leipzig der frühere Unterhaltungschef Udo Foht vor Gericht. Es geht um zahlreiche über zehn Jahre zurückliegende Betrugsfälle mit bis zu fünfstelligen Summen, um undurchsichtige Kredite, bei denen TV-Produktionsfirmen, MDR-Musikshows und Musikmanager eine Rolle spielen. Die Staatsanwaltschaft wirft Foht Untreue, Bestechlichkeit und Steuerhinterziehung vor. Bisherige Konsequenzen: Schon 2011 war Foht gekündigt worden. Am 9. September legte der Ex-MDR-Mann ein Geständnis ab. Ende August trat zudem Ines Hoge-Lorenz, Direktorin des MDR-Landesfunkhauses Sachsen-Anhalt von ihrem Amt zurück. Begründung: Sie habe es versäumt, darüber zu informieren, dass ihr Mann einst in der Causa Foht eine Rolle gespielt habe.
Im Bayerischen Rundfunk schließlich sorgt ein Fall von mutmaßlicher Verschwendung für Kritik. Dort war zum Jahresende 2021 der frühere Programmdirektor Kultur Reinhard Scolik auf Wunsch der neuen Intendantin Katja Wildermuth aus dem BR ausgeschieden – zehn Monate nach Beginn seiner zweiten Amtszeit Anfang März 2021 und 33 Monate vor Vertragsende. Über die Kosten dieser vorzeitigen Trennung – es ist die Rede von einer hohen sechsstelligen Abfindung – schweigt der BR sich aus.
Als sich die Ministerpräsident*innen Anfang Juni nach sechsjähriger Debatte auf eine Reform von ARD, ZDF und Deutschlandradio verständigten, ahnten sie nicht, in welch schweres Fahrwasser das gesamte öffentlich-rechtliche System wenige Monate danach geraten würde. Dass die Novelle des Medienstaatsvertrags – wie ursprünglich geplant – bis Oktober dieses Jahres in der aktuellen Fassung verabschiedet wird, erscheint unter diesen Umständen fraglich.
Noch Ende August sah die Medienstaatssekretärin und Co-Vorsitzende der Rundfunkkommission der Länder, Heike Raab, auf einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung keinen Überarbeitungsbedarf. Die Novelle sei sehr „up-to-date“, befand sie, trotz der deprimierenden Chronik laufender Skandale in diversen Sendern. Zumindest die Rolle der Rundfunkgremien, auf die laut Staatsvertrag mit der Flexibilisierung des Auftrags ganz neue anspruchsvolle Aufgaben zukommen, muss vor diesem Hintergrund klarer definiert werden. Zweifel, ob ehrenamtlich arbeitende Gremien über die nötige Expertise verfügen, erscheinen jedenfalls angebracht. So wird es wohl darauf ankommen, wie das im Staatsvertragsentwurf enthaltene Angebot an die Räte, auch auf die Expertise von externen und unabhängigen Sachverständigen zurückzugreifen, umgesetzt wird (mehr dazu im Beitrag S. 24/25).
Die Skandale sind indes Wasser auf die Mühlen derer, die dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk seit jeher nicht wohl gesonnen sind. Abgesehen von den üblichen Reflexen rechtsextremer Gruppen im Dunstkreis der AfD und Publikationen wie der „Jungen Freiheit“ („GEZ-Zwangsgebühren sofort abschaffen!“) kommen auch von Protagonisten konservativer Parteien wie CDU und FDP „reform“politische Forderungen, die den Bestand der Sender und ihrer Programme in ihrem gegenwärtigen Umfang in Frage stellen.
Daumenschrauben und Abrissbirne
Zwar hat das Bundesverfassungsgericht erst vor gut einem Jahr den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten einen „grundrechtlichen Finanzierungsanspruch“ zugebilligt. Auch urteilten die Richter, die Festsetzung des Rundfunkbeitrags müsse „frei von medienpolitischen Zielsetzungen erfolgen“. Das dürfte – neben anderen – die damals unterlegene CDU Sachsen-Anhalts kaum daran hindern, im kommenden Beitragsfestsetzungsverfahren zu versuchen, den Öffentlich-Rechtlichen finanzielle Daumenschrauben anzulegen. Der Staatsminister Rainer Robra hat mit der Forderung nach Beschränkung auf ein bundesweites Vollprogramm des ÖRR bereits die Abrissbirne ausgepackt.
Eine Resolution der 18 Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU aus Bund, Ländern und Europaparlament vom 4. September begnügt sich dagegen einstweilen mit moderaten Forderungen, die hauptsächlich auf eine effizientere Kontrolle und Transparenz der Anstalten hinauslaufen. Die beschlossenen „Eckpunkte“: Stärkung der Aufsichtsfunktion der Verwaltungsräte; Begrenzung der Gehälter von Führungspersonen; Stärkung der Rechnungshöfe bei der Prüfung der Landesrundfunkanstalten; Vereinheitlichung der Compliance-Richtlinien – im Grunde genommen Forderungen, die weder neu noch umstritten sind.
Nicht jede Reformforderung lässt sich umstandslos als populistisch zurückweisen. Denn über die Jahre hat sich in einigen Anstalten offenbar eine Selbstbedienungsmentalität herausgebildet, die nunmehr für die Akzeptanz des gesamten Systems gefährlich werden könnte. Das gilt vor allem für die Kluft, die sich zwischen der Raffke-Mentalität der RBB-Geschäftsleitung und der Belegschaft offenbarte. Eine besonders krasse Missachtung der Mitarbeiterinteressen zeigte sich in dem von der Unternehmensberatung Kienbaum entwickelten Bonus-System für Sparziele, Stellenstreichungen und Programmabbau. „Mit den Rezepten einer privatwirtschaftlichen Kostenminimierung lässt sich kein guter und von der Gesellschaft anerkannter Rundfunk machen“, urteilt ver.di. Und: Dieses Boni-System „führt zu einer Glaubwürdigkeitskrise bisher unbekannten Ausmaßes“.
In einem Diskussionspapier hat ver.di-Bundesvorstandsmitglied Christoph Schmitz unter dem Stichwort „Vertrauen zurückgewinnen“ eine Reihe gewerkschaftlicher Reformvorschläge für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk unterbreitet. An vorderster Position steht die Etablierung „hoher Standards für saubere Geschäftsführung“, unter anderem durch Einrichten effizienter und unabhängiger Compliance-Strukturen. Außerdem: Die Stärkung der Kontrollfunktion von Rundfunk- und Verwaltungsrat, der inneren Rundfunkfreiheit durch Redaktionsausschüsse und der journalistischen Qualität durch auskömmliche Finanzierung personeller und technischer Ressourcen sowie mehr Mitbestimmung für feste und freie Mitarbeitende.
Der Zeitplan der Rundfunkkommission sieht vor, bald nach Inkrafttreten des Medienstaatsvertrags die Zukunft der Rundfunkfinanzierung zu erörtern – unter dem Stichwort „Sicherung von größtmöglicher Beitragsstabilität und Beitragsakzeptanz“. Schon der Ukraine-Krieg und die folgende Energiekrise samt galoppierender Inflation haben das Panorama für selbstbewusst vorgetragene materielle Forderungen verdüstert. Eine substantielle Erhöhung des Beitrags ab 2025 wird aber nötig sein, um den staatsvertraglich festgeschriebenen Programmauftrag zu erfüllen.
Viele Redaktionen der ARD haben durch ihre engagierte Aufklärung der hauseigenen Missstände den Willen und die Fähigkeit zur Reform bewiesen. Die Chance, unzumutbare Sparauflagen abzuwehren und eine zeitgemäße Entwicklung und Finanzausstattung abzusichern, dürfte nicht zuletzt von der Bereitschaft der Sender abhängen, die offenkundigen Fehlentwicklungen der vergangenen Jahre zu korrigieren.
Diskussionspapier
Vertrauen zurückgewinnen – Vorschläge für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk ein Diskussionsbeitrag (8.9.22) von Christoph Schmitz