Als Stefan Zweig Ende der Dreißigerjahre im brasilianischen Exil seine „Schachnovelle“ verfasste, verstand er die Erzählung als Hommage an die Unbesiegbarkeit des Geistes. Mit seiner kühnen Adaption hat Eldar Grigorian die Geschichte über einen Wiener Notar, der sich in der Gestapo-Einzelhaft in eine Wahnwelt rettet, neu erfunden.
Der Film beginnt mit einer erfolgreichen Flucht: Josef Bartok erreicht während des Zweiten Weltkriegs ein Schiff nach New York. Einzige Attraktion an Bord ist der amtierende Schachweltmeister Czentovic, ein grobschlächtiger Analphabet, der in Simultanpartien ein gutes Dutzend Mitreisende deklassiert. Als Bartok einem Industriellen rät, wie er dem genialen Gegner zumindest ein Remis abtrotzen könne, überredet ihn der Mann zu einem Duell gegen Czentovic. Aber Bartok hat noch nie in seinem Leben eine Schachfigur berührt.
Ungleich stärker als die 1960 mit Curd Jürgens, Hansjörg Felmy und Mario Adorf schon einmal verfilmte Vorlage leuchtet Grigorians Version die psychischen Abgründe der von Oliver Masucci mit Leib und Seele verkörperten Hauptfigur aus. Auch dank Philipp Stölzls Umsetzung schwingt stets jene Frage mit, die Edgar Allan Poe in seinem Gedicht „Ein Traum in einem Traum“ einst so formulierte: „Ist all Schau’n und Schein nur Schaum – nichts als Traum in einem Traum?“ In der Tat kann sich Bartok seiner selbst nicht sicher sein, wie sich schon früh während der Schiffspassage andeutet, als sich rausstellt, dass er keineswegs in Begleitung seiner geliebten Gattin Anna (Birgit Minichmayr), sondern allein unterwegs ist.
Faszinierender noch als die Begebenheiten auf dem Schiff sind die in langen Rückblenden erzählten Ereignisse, die sich zuvor in Wien zugetragen haben, Anfang 1938, als der Notar die faschistische Bedrohung durch den mächtigen Nachbarn nicht wahrhaben wollte. Am Tag des sogenannten Anschlusses wird er prompt verhaftet. Bartok hat das Vermögen des österreichischen Alt- und Geldadels auf ausländischen Nummernkonten deponiert. Ohne die jeweiligen Codes hat der neue Wiener Gestapo-Chef Böhm (Albrecht Schuch) keinen Zugriff auf die Reichtümer. Da der Jurist die Ziffernfolgen auswendig gelernt und die Unterlagen verbrannt hat, lässt Böhm ihm eine „Sonderbehandlung“ zuteil werden: Abgeschirmt von sämtlichen Außenreizen verbringt Bartok die nächsten zwölf Monate in einem Zimmer des zum Gestapo-Hauptquartier umfunktionierten Luxushotels Métropol in Einzelhaft. Die erzwungene intellektuelle Askese zehrt an seiner seelischen Stabilität, bis es ihm eines Tages gelingt, auf dem Weg zum Verhör ein Buch über berühmte Schachpartien zu entwenden. Fortan widmet er seine Zeit mit selbstgeformten Figuren auf den Badezimmerfliesen dem Spiel der Könige.
Die Szenen im Hotelzimmer sind das Herzstück des Films. Aber obwohl sich auch die Rahmenhandlung größtenteils in der Bar des Schiffs zuträgt, ist „Schachnovelle“ kein Kammerspiel, weil Stölzl („Der Medicus“, 2013) dank der preiswürdigen Bildgestaltung (Thomas W. Kiennast) ein Kunststück gelungen ist: Die düsteren Bilder vermitteln zwar die klaustrophobische Beengtheit von Bartoks Isolation und illustrieren wirkungsvoll sein Abdriften in psychische Untiefen, sind aber dennoch „groß“. Davon abgesehen ist Masucci, für seine Leistung mit dem Bayerischen Filmpreis geehrt, gerade auch in den berührenden Momenten ohne Dialog formidabel. Schuch ist ihm ein würdiger Spielpartner. Clevere Details sorgen dafür, dass sich die Rahmenhandlung in einer Welt zwischen Wahn und Wirklichkeit bewegt, sodass es des aufklärenden Epilogs gar nicht bedurft hätte.
„Schachnovelle“. D 2021. Buch: Eldar Grigorian. Regie: Philipp Stölzl. Mit Oliver Masucci, Albrecht Schuch. 3. Juli, ARD, 20.15 Uhr. Ab 1. Juli in der ARD-Mediathek.