Der Journalist Nedim Türfent berichtet über die Situation von Medienschaffenden in der Türkei. Sein Film „Ihr werdet die Macht der Türken spüren!“ über die schikanöse Behandlung kurdischer Bauarbeiter erregte große Aufmerksamkeit und brachte ihm 2015 einen Journalistenpreis ein – und 2016 seine Verhaftung. Er wurde gefoltert und zu acht Jahren und neun Monaten Gefängnis verurteilt. Die meiste Zeit davon verbrachte er im Hochsicherheitsgefängnis in der östlichen Stadt Van. Türfent wurde am 29. November 2022 nach sechs Jahren und sieben Monaten Haft entlassen. Schon wenige Monate später arbeitete er wieder als Journalist. Zurzeit nimmt er an einem Stipendium für bedrohte Journalisten in Deutschland teil.
Vor den Präsidentschaftswahlen im Mai 2023 wurden Journalist*innen, Politiker*innen, Rechtsanwält*innen und viele, die als Kritiker*innen von Präsident Erdoğan, der AKP und seiner Politik gelten, verhaftet. Wie ist die Situation momentan für Medienschaffende in der Türkei?
Die Versuche, Journalist*innen, Politiker*innen, Anwält*innen oder Menschenrechtsverteidiger*innen in der Türkei mit dem Knüppel der Justiz zu „disziplinieren“, haben nicht erst unter Präsident Erdoğan oder seiner AKP-Partei begonnen. Vor allem in den letzten 10 Jahren der AKP-Herrschaft ist die Verhaftung von Journalisten und Journalistinnen jedoch alltäglich geworden. Vor den Präsidentschaftswahlen im vergangenen Jahr wurden wir erneut mit einer Welle von Verhaftungen und Inhaftierungen konfrontiert, wie die AKP das fast jedes Mal vor einer Wahl tut. Die Verhaftungswellen richten sich immer in erster Linie gegen kurdische Journalist*innen und Politiker*innen. Die gesamte Öffentlichkeit wurde im vergangenen Jahr Zeuge davon. In zwei großen Operationen, die sich allein auf Diyarbakır und Ankara konzentrierten, wurden 26 kurdische Journalist*innen verhaftet. Unsere Journalistenfreunde wurden erst nach monatelanger Haft wieder freigelassen.
Kurdische Politiker*innen, die die AKP-Regierung oder den Staat kritisieren – meiner Meinung nach gibt es keinen großen Unterschied zwischen den beiden, man kann durchaus von einem „Parteienstaat“ sprechen -, kurdische Journalist*innen, die Korruption und Rechtsverletzungen aufdecken, Frauen, die sagen: „Die Istanbul-Konvention hält dich am Leben“(völkerrechtliches Abkommen des Europarats zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, Anmerk. der Redaktion), LGBTIQ-Personen, die frei leben wollen, kurzum, jede und jeder, der sich der AKP widersetzt, bekommt seinen Anteil an dieser Repression. Es sollte jedoch unterstrichen werden, dass die Unterdrückung viel stärker ist, wenn es sich um kurdische Menschen handelt. Ein kurdischer Journalist oder Politiker, der Erdoğan oder seine Partei kritisiert, läuft Gefahr am nächsten Morgen unter dem Vorwurf des „Terrorismus“ verhaftet zu werden.
Kurz gesagt: Je häufiger Journalist*innen über die Freiheitsprobleme der Bevölkerung, die Unterdrückung im Land oder die Verletzung von Rechten schreiben, desto gefährdeter sind sie. Neben der juristischen Keule ist die Arbeitslosigkeit eines der Hauptprobleme, mit denen Medienschaffende zu kämpfen haben. Journalist*innen versuchen ihre Arbeit im Schatten von wirtschaftlichen Engpässen und Gerichtsverfahren zu erledigen.
Welche Rolle spielt das sogenannte Desinformationsgesetz für die journalistische Arbeit?
Der kritischste Aspekt des umstrittenen „Desinformationsgesetzes“ ist meines Erachtens der Artikel, der für den Tatbestand der „öffentlichen Verbreitung irreführender Informationen“ eine Freiheitsstrafe von einem bis drei Jahren vorsieht. Ich bin kein Jurist, aber als Journalist, der sechseinhalb Jahre lang im Gefängnis saß, kann ich ohne weiteres sagen, dass eine solche Aussage keine rechtliche Entsprechung Rechtsgrundlage hat. Dieser Artikel verstößt in eklatanter Weise gegen die Rechtsklarheit. Er gefährdet nicht nur die verfassungsmäßig garantierte persönliche Sicherheit, sondern steht auch im Widerspruch zu den Artikeln der Meinungsfreiheit.
Zur Person
Nedim Türfent wurde 1990 in der südöstlichen kurdischen Stadt Yüksekova geboren. Nach der Schule studierte er Englisch, um Lehrer zu werden, beschloss aber nach seinem Abschluss, Journalist zu werden, weil er die ungerechte Behandlung und die Menschenrechtsverletzungen seiner kurdischen Landsleute aufdecken wollte.
Gegen wen richtet sich das Gesetz?
Das Gesetz unterdrückz nicht nur Journalist*innen, sondern zielt auch darauf ab, den Menschen den Weg zu versperren, ihre Meinungen, Gedanken oder Kritik über soziale Medien frei zu äußern. Die Regierung will nicht, dass die Gesellschaft über Themen spricht und diskutiert, die ihr nicht gefallen oder die sie nicht befürwortet. Diejenigen, die über diese Themen schreiben, laufen Gefahr, jederzeit wegen angeblicher „Desinformation“ verhaftet zu werden. Tatsächlich wurden nach den Erdbeben im vergangenen Jahr viele Menschen, insbesondere Journalist*innen, verfolgt, weil sie Such- und Rettungsaktionen oder Hilfsmaßnahmen kritisiert hatten. Seit der Verabschiedung des Gesetzes wurden viele Journalist*innen festgenommen oder verhaftet. Es scheint, dass dieses Gesetz wie ein Damoklesschwert über allen abweichenden Stimmen in der Gesellschaft schwebt.
Führt das Gesetz zu einer Selbstzensur der Journalist*innen, zu einer „Schere im Kopf“?
In der Türkei, wo der Informations- und Nachrichtenfluss monopolisiert ist und fast 90 Prozent der Presse regierungsfreundlich ist, waren Journalist*innen schon vor Inkrafttreten des Desinformationsgesetzes systematischen Repressionen ausgesetzt. Journalist*innen, die die Wahrheit schrieben, die die Regierung „beunruhigt“, konnten unter dem Vorwurf „terroristischer Aktivitäten“ jahrelang inhaftiert werden. Die Furcht und Angst, verhaftet zu werden, übt natürlich Druck auf Journalist*innen aus. Sie müssen sich mit der Frage auseinandersetzen: „Was könnte mir passieren, wenn ich berichte?“ Sie müssen es sich zweimal überlegen, bevor sie ihre Meinung zu bestimmten Themen äußern. Einige Journalist*innen geben selbst an, dass sie in den letzten Jahren beim Verfassen ihrer Stellungnahmen Selbstzensur geübt haben. Selbstzensur ist schon seit Jahren Gang und Gäbe, das kann niemand leugnen.
In der Türkei ist eine drohende Verhaftung der häufigste Grund für die Selbstzensur. Nach dem Desinformationsgesetz hat sich die Situation sogar noch verschärft. Denn das Gesetz erleichtert die Verhaftung von Journalist*innen.
Am 31. März werden in der Türkei Kommunalwahlen abgehalten. Müssen wir mit einer weiteren Verhaftungswelle rechnen? Oder mit anderen Maßnahmen, die Informationen und kritische Berichterstattung vereiteln?
Es herrscht heute eine Atmosphäre, die den Bedingungen ähnelt, unter denen wir in den vergangenen Jahren zu den Wahlen angetreten sind. Vor allem in den letzten 10 Jahren war jeder Wahlprozess von Repressionen, Verhaftungen und Verboten geprägt. Vor den Kommunalwahlen, die Ende März stattfinden werden, zeichnet sich ein ähnliches Bild ab. Gültan Kışanak, die von der Partei für Gleichheit und Demokratie des Volkes (DEM), der drittgrößten politischen Partei in der Türkei (gemessen an der Zahl der Abgeordneten), als Co-Bürgermeisterin der Hauptstadt von Ankara, der Hauptstadt des Landes, nominiert wurde, befindet sich im Gefängnis. Kışanak muss ihren Wahlkampf zwischen Eisenstangen führen. Noch immer sind Hunderte von HDP-Politiker*innen inhaftiert, und jeden Tag gibt es eine neue Verhaftung.
Die Welle der Verhaftungen von Journalist*innen reißt nicht ab. Leider werden wir im Vorfeld der Kommunalwahlen erneut Zeugen von Verhaftungen oder Inhaftierungen. Es wäre auch nicht überraschend, wenn der Zugang zu Konten in den sozialen Medien oder zu Websites blockiert würde. Diese undemokratischen und unfairen Praktiken sind in der Türkei mittlerweile zur Wahlroutine geworden.
Wie viele Journalist*innen, die im Mai 2023 verhaftet wurden, sind heute noch im Gefängnis? Welche Prozesse laufen und was wird ihnen vorgeworfen?
Die Journalistin Dicle Müftüoğlu und der Redakteur der Agentur Mezopotamya, Sedat Yılmaz, wurden am 3. Mai, dem Welttag der Pressefreiheit, kurz vor den Wahlen verhaftet. Yılmaz wurde am 14. Dezember 2023 nach 230 Tagen Haft entlassen. Bei der letzten Anhörung am 29. Februar wurde Yılmaz freigesprochen. Warum haben Sie ihn dann sieben Monate lang im Gefängnis festgehalten? Wer wird sich dafür verantworten? Müftüoğlu wurde am 29. Februar nach 306 Tagen Haft entlassen.
Laut dem Prozessbeobachtungsbericht 2023 der Media and Law Studies Association (MLSA) wurden innerhalb eines Jahres 314 Journalist*innen vor Gericht gestellt. 23 Journalisten wurden in 17 Fällen zu 67 Jahren, 8 Monaten und 12 Tagen verurteilt. In 6 Fällen wurden 12 Angeklagte zu einer Geldstrafe von 75.126 Lira verurteilt. Während in 59 Fällen die Angeklagten freigesprochen wurden. In 133 Fällen wurden journalistische Tätigkeiten wie die Berichterstattung und die Veröffentlichung von Nachrichten angeklagt. Zuletzt wurde der Reporter der Pir News Agency (PİRHA), Diren Keser, am 28. Februar verhaftet, und zu 21 Monaten Haft verurteilt. Er stand wegen seiner Nachrichtenberichte und Beiträge in den sozialen Medien vor Gericht
Welchen Eindruck hinterlassen diese Verfahren bei Ihren Kolleg*innen? Welche Themen behandeln sie in ihrer Berichterstattung?
Die Zahl der Journalist*innen in der Türkei, die unter dem Risiko möglicher Konsequenzen, insbesondere dem Risiko der Verhaftung, arbeiten, ist beträchtlich. Es ist jedoch auch festzustellen, dass einige Journalisten es nicht „vorziehen“, über „unangenehme“ Themen zu berichten, die zu einer Verhaftung führen könnten. Manchmal handelt es sich dabei um das Ignorieren von Korruption, manchmal aber auch um Selbstzensur. Tatsächlich stellt die Nichtberichterstattung über einen Verstoß oder eine Korruption, die im öffentlichen Interesse liegt, ein ethisches Problem für Journalisten dar.
Vor kurzem wurden drei befreundete Journalisten drei Tage lang in der osttürkischen Stadt Van festgehalten und dann wieder freigelassen. Ich habe mit einer Journalistin gesprochen, die in Van arbeitet, wo diese drei Journalisten festgehalten wurden. Die Journalistin sagte mir, dass diese Verhaftungen für sie eine Form der Einschüchterung seien und dass sie bei der Auswahl ihrer Nachrichten sehr „sensibel“ sein müssten. Das ist ein deutlicher Indikator, dass die Verhaftung eines Journalisten auch Auswirkungen auf andere Journalisten hat.