Rechtsextremismus im toten Winkel journalistischer Aufmerksamkeit
Der Beginn des NSU-Prozesses wurde nach der Intervention des Bundesverfassungsgerichts verschoben. Bei aller Genugtuung über die dadurch mögliche Korrektur bei der Akkreditierung von Pressevertretern: Die bewusste oder unbewusste Ignoranz des zuständigen Oberlandesgerichts München, die mit einiger Chuzpe vorgetragene Bockigkeit, mit der die Richter des 6. Strafsenats sich in ihrem Paragrafenturm verschanzt hatten, ist nur das letzte Glied einer Skandalkette, die das Wirken der diversen Akteure bei der Aufklärung der NSU-Mordserie verbindet.
Es sind die Angehörigen der Mordopfer, die den Dilettantismus und die schlecht verhüllte Unlust der Justiz auszubaden haben, die Taten des neonazistischen Terrornetzwerks zügig zu untersuchen und zu ahnden. Wo ein Gericht sich ohne höchstinstanzlichen Druck als unfähig erweist, auch nur die Sitzplatzfrage zu klären, stehen die Zeichen für den Verlauf des eigentlichen Prozesses nicht eben gut. Die Autorität der Richter ist bereits beschädigt.
Weitaus problemloser startete Anfang April in Dresden ein anderer Prozess, der gegen den Jugendpfarrer Lothar König. Zur Last gelegt wird dem Beschuldigten schwerer Landfriedensbruch, Beihilfe zum Widerstand gegen die Staatsgewalt und versuchte Strafvereitelung. Er hatte an Protesten gegen einen Neonaziaufmarsch Anfang 2011 teilgenommen, bei dem es zu schweren Ausschreitungen gekommen war. Eine direkte Beteiligung an Gewalttaten wird König nicht vorgeworfen, aber er habe sie zumindest billigend in Kauf genommen. Wo es um die Diffamierung antifaschistischer Aktivitäten geht, funktionieren die Reflexe der staatlichen Strafverfolger offenbar nach wie vor reibungslos.
In München stehen fünf mutmaßlich dem NSU-Terrornetzwerk verbundene Angeklagte vor Gericht. Nicht auf der Anklagebank sitzen staatliche Instanzen wie die Verfassungsschutzämter und ihre V-Männer. Ebenso wenig dürfte im Prozess das Versagen von Polizei und Staatsanwaltschaft thematisiert werden. Immerhin waren im Laufe der Ermittlungen Hunderte von qualifizierten Beamten mehrfach auf die richtige Spur gestoßen, hatten das Offensichtliche immer wieder verworfen und ungerührt an komplett falschen Hypothesen festgehalten. Auch das gezielte Schreddern von Behördenakten lässt sich kaum unter dem Stichwort „Pleiten, Pech und Pannen“ abbuchen. Ganz zu schweigen vom gesellschaftlichen Klima des Rassismus, in dem sich die rechtsextreme Saat unbehelligt oder gar mit Zustimmung von schweigenden Minderheiten entfalten konnte.
Neben Staats- und Justizapparat versagt hat aber auch jene Instanz, die in Sonntagsreden gern als „Vierte Gewalt“ gerühmt wird, die freie Presse dieses Landes. „Spur der Döner-Mörder führt zur Wettmafia“ – noch Ende 2009 suchte der Spiegel, zu Zeiten von Rudolf Augstein das „Sturmgeschütz der Demokratie“, im Zusammenspiel mit den Behörden das Fehlverhalten bei den Betroffenen selbst. Selbst das einstige Zentralorgan des investigativen Journalismus mobilisierte keinen Hauch von Zweifel an den Verlautbarungen der diversen Behörden. Ausgerechnet das Magazin, das bis heute immer wieder obsessiv in den Abgründen der NS-Ära herumstochert (letzter einschlägiger Titel: „Hitlers Uhr“), zog einen rechtsextremen Hintergrund bei der ungewöhnlichen Mordserie nicht in Betracht. Bereits die menschenverachtende Bezeichnung „Döner-Morde“, zumindest das dürfte inzwischen Allgemeingut sein, lässt auf vorhandene rassistische Grundeinstellungen schließen. Und auch mit der Verwendung des Begriffs „Mafia“ wurden seinerzeit die Morde für die breite Öffentlichkeit eindeutig im Milieu krimineller Ausländerbanden verortet.
Das publizistische Verhalten des Spiegel steht für das kollektive Versagen einer ganzen Branche. Unserer Branche. Keines der vielen in den letzten Jahren aus dem Boden gestampften Investigationsteams, kein Netzwerk Recherche, auch kein einzelner Redakteur eines der großen überregionalen Qualitätsblätter zog seinerzeit die von den Ermittlern gelieferten „Erkenntnisse“ in Zweifel. FR-Redakteur Arno Widmann übte in diesem Sinne Ende 2011 Selbstkritik: „Wir – die Medien – haben hingesehen und berichtet: im Vermischten. Wir haben also mit den Augen der Ermittlungsbehörden hingesehen. Das ist nicht unser Job.“
Es dürfte kein Zufall sein, dass immer wieder selbst angesehene Medien bei der Beurteilung von politischen Vorgängen gegen elementarste journalistische Grundregeln verstoßen. Etwa gegen das Gebot der vorurteilslosen Prüfung der Fakten. Beim Massaker von Oslo/Utoya vor anderthalb Jahren nahmen die meisten Medien vorschnell einen „islamistischen Hintergrund“ an. ZDF-„Terrorexperte“ Elmar Theveßen etwa kam im „heute-journal“ im Gespräch mit Maybrit Illner immer wieder auf eine angebliche islamistische Bedrohung zurück, obwohl zu diesem Zeitpunkt eine solche Assoziation aufgrund der durchgesickerten Fakten bereits höchst fraglich erschien.
Das Bedienen gängiger Vorteile mag einfacher sein als eine seriöse Recherche. Niemand hindert die Medien daran, jenseits des behördenamtlichen Informationsnebels ihre eigene Agenda zu setzen. datenjournalist.de gab unlängst eine Reihe nützlicher Hinweise in diese Richtung: Wie wäre es mit dem Aufbau einer Leaking-Plattform, auf der die bereits zirkulierenden Akten und Verschlusssachen zum NSU-Prozess publiziert werden? Warum nicht ein, zwei, viele Redaktionsblogs rund um den Untersuchungsausschuss und den bevorstehenden Prozess? Wo bleibt die Datenbank, in die alle vorhandenen Informationen zum NSU – von Opfern und Tätern bis hin zu politischen Akteuren eingespeist und gepflegt werden?
Der NSU-Prozess könnte Ausgangspunkt für eine Rückbesinnung der Medien auf ihre eigentliche Aufgabe sein: die kritische, vorurteilsfreie, gern auch investigative Berichterstattung. Auch da, wo es um gesellschaftliche Strukturen geht, die diese Mordserie an zehn unserer Mitbürger erst ermöglicht haben.