Bei „Heuschreckenalarm“ kein Grund zur Panik

Tarifvertragswerk mit erheblicher Erweiterung der Mitbestimmung im Berliner Verlag

Aufatmen beim Berliner Verlag: Nach mehrmonatigen Verhandlungen einigten sich ver.di und die Berliner Verbände des DJV mit den Berliner Unternehmen der Deutschen Zeitungsholding Ende Oktober auf ein weitreichendes Tarifvertragswerk zur Beschäftigungssicherung. Es sieht unter anderem auch eine erhebliche Erweiterung der Mitbestimmung sowie konzernweite Altersregelungen für die über 700 Beschäftigten der Verlagsgruppe vor (Ber­liner Zeitung, Kurier, TIP u.a.). Die Gruppe war Ende 2005 vom Investorenkonsortium Mecom / VSS übernommen worden. Über die Ergebnisse der Verhandlungen sprach M mit Martin Dieckmann von der ver.di-Bundesverwaltung, dem Verhandlungsführer der Gewerkschaften.

M | Nach den Frühjahrs-Turbulenzen um den Verkauf des Berliner Verlags an die anglo­ame­rikanischen Investoren – hat sich ver.di inzwischen mit den „Heuschrecken“ arrangiert?

MARTIN DIECKMANN | Jede Tarifeinigung, zumal nach einem Jahr dieser Art, zwi­schenzeitlich sehr hart geführten Ausei­nandersetzungen, ist natürlich ein Arrangement. Auch auf der Gegenseite. Man hat dort ab einem bestimmten Zeitpunkt verstehen gelernt, dass wir nicht nur Propagandisten und Agitatoren sind, sondern auch konkrete, auf die einzelnen Unternehmen und Betriebe bezogene Vorschläge machen. In einer oder zwei sehr zugespitzten Krisensituationen muss­te man sich dann entscheiden, ob man eine publizitätswirksame Imageschlacht führen oder mehr Rechte für die Beschäftigten durchsetzen will. Da gab es auf unserer, der Gewerkschafts- und Betriebsräteseite keinen Zweifel, dass es um Letzteres gehen musste. Aber an unserer Skepsis gegenüber Finanzinvestments dieser Art auf dem Zeitungsmarkt hat sich nichts geändert. Von einem Arrangement mit dem Geschäftsmodell kann also keine Rede sein, allerdings hat sich gezeigt, dass es bei „Heuschreckenalarm“ keinen Grund zur Panik gibt. Vo­r­aussetzungen sind – wie anderswo auch – selbstbewusste, gewerkschaftlich gut organisierte Belegschaften und Arbeitnehmervertreter. Immer wieder wird vergessen, dass es nicht nur um den Berliner Verlag geht. Da sind noch der Berliner Zeitungsdruck, der TIP und das Abendblatt. Alle zusammen bilden in Berlin eine regionale Konzernstruktur der BV Deutsche Zeitungsholding. Es geht also um mehr als 700 Beschäftigte …

M | … mit mehreren Betriebsräten und in diesem Fall ja auch drei Gewerkschaften.

DIECKMANN | Ja, einbezogen waren zu je­der Zeit vier Betriebsräte, dazu der Konzernbetriebsrat, neben ver.di dann noch die beiden Landesverbände des DJV. Und es gab den gemeinsamen gewerkschaftli­chen Aktionsausschuss, der zumindest für ver.di als Konzerntarifkommission fungierte. Wir haben von Anfang Wert gelegt auf den Zusammenhang der gesamten Verlagsgruppe, damit auch auf die Vielfältigkeit der jeweiligen Ausgangsbedingungen. Basis war das sehr früh ausgegebene Motto über alle Betriebe hinweg: „Wir für Euch – Ihr für uns!“ So konnte über eine längere Zeit hinweg der Druck auf den Konzern aufrechterhalten und erhöht werden. Dies natürlich begünstigt durch die hohe Aufmerksamkeit seitens der Medien.

M | Die Medien als Arbeitskampfmittel?

DIECKMANN | Natürlich hat dieses be­sondere öffentliche Interesse zunächst geholfen. Aber es war auch immer nur fokussiert auf Spektakuläres bei der Ber­liner Zeitung. Sobald die Verhandlungen in eine konstruktive Phase kamen und es darum ging, für über 700 etwas Gemeinsames hinzubekommen, war der Öffentlichkeitseffekt nicht mehr gegeben. Wir wollten ihn dann während der – tatsächlich konstruktiven – Arbeitsphase auch nicht mehr.

M | Was ist bei den Tarifverhandlungen im Einzelnen herausgekommen?

DIECKMANN | Wir wollten ein Gesamt­paket, in dem mittelfristige Personalplanung mit Regeln zur Weiterbeschäftigung bei drohender betriebsbedingter Kündigung auf der Basis auch von wirtschaftlichen Informations- und Beratungsrechten zusammenwirkten. Und dies alles auch unter Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen. Letzteres haben wir nicht erreicht, dafür aber ein Regelwerk, das hilft, betriebsbedingte Kündigungen durch Personalplanung und Weiterbeschäftigung im Konzern zu vermeiden. Das beginnt mit einem Tarifvertrag zu Informations- und Beratungsrechten in wirtschaftlichen Angelegenheiten.

M | Also Verzicht auf Tendenzschutz in wirtschaftlichen Angelegenheiten?

DIECKMANN | Ja, Ähnliches gab es früher nur bei Gruner + Jahr, allerdings nur als freiwillige Zusage des Arbeitgebers. Jetzt ist es, auch inhaltlich weiter gefasst, zu einem Tarifvertrag geworden. Das ist absolut ein­malig in der Medienbranche. Tarifvertraglich vorgeschrieben ist eine Konzernbetriebsvereinbarung zur Personalplanung. Sie regelt fortlaufende Informationen und Beratungen zur Personalplanung in den einzelnen Betrieben, wobei sich die Betriebsräte hier gegenseitig informieren können. Unverzichtbar ist dies im Sinne eines Frühwarnsystems. Last but not least gibt es einen Altersteilzeittarifvertrag, der den branchenüblichen Tarifverträgen entspricht, aber weiter als anderswo auch Rechtsansprüche festschreibt.

M | Wie ist das Ende Juni abgeschlossene Redaktionsstatut der Berliner Zeitung zu bewerten? Eine zentrale Forderung – das Vetorecht bei der Bestellung des Chefredakteurs – konnte nicht durchgesetzt werden …

DIECKMANN | … weil es ähnlich wie in der Tarifauseinandersetzung darum ging, ob man bei Zurückstellung einer formellen Forderung materiell möglichst viel an Inhalt, an Mitbestimmung durchsetzen kann. Ein Statut muss praktisch gelebt werden. Innere Pressefreiheit wird nur gewährt, wenn man sie sich auch nimmt. Wenn sich das auf die jeweilige Besetzung der Chefredaktion beschränkt, ist das nicht gerade sehr viel. Wer weiß denn, wie der Wunschkandidat nach einem halben Jahr agiert? Für die Berliner Zeitung ist wichtig, dass vertraglich Charakter und Auftrag der Zeitung festgeschrieben wurde und, dass die Redaktionsvertreter auch laufend in der publizistischen Mitbestimmung sind. Es gibt wunderbare Statute, die tote Materie geblieben sind, und es gibt formell schwache Statute, die von selbstbewussten Redaktionen machtvoll eingesetzt wurden. Wenn die Redaktion der Berliner Zeitung weiter für ihr Blatt so kämpft wie bislang, hat sie durch dieses Statut erheblich mehr Möglichkeiten als zuvor. Sie braucht sie nur zu nutzen.

M | Viele Großverlage – Handelsblatt, Rheinische Post, DuMont Schauberg, Springer – bauen derzeit massiv Personal ab. Welche Erfahrungen werden in dieser Hinsicht mit den Investoren in Berlin und Hamburg gemacht?

DIECKMANN | Sagen wir es so: Auch die Investoren bewegen sich auf einem Markt, der sich nicht nach ihren Wünschen rich­tet. Auch sie müssen mit Wasser kochen. Klar ist, dass der Druck auf die Beschäftigten an beiden Standorten – Berlin und Hamburg – groß ist. Und er wird in der nächsten Zeit auch nicht nachlassen. Aber was insbesondere in Berlin geschieht, ist eben nicht investorentypisch, sondern – leider – verlagstypisch. Genau das hat uns ja auch dazu bewogen, tarifvertraglich auf Regelungen zu zielen, die anderswo leider fehlen. Regelungen, wie wir sie auf Konzern- und betrieblicher Ebene vereinbart haben, hätten viele andere Konzern- und Betriebsräte anderswo liebend gern.

M | Gibt es nach der Übernahme der Hamburger Morgenpost durch Mont­gomery „Synergieeffekte“ zwischen Berlin und Hamburg?

DIECKMANN | Ja, bislang aber noch keine wesentlichen wirtschaftlichen Synergien. Es gibt aber redaktionelle Synergien beim Kurier und der Hamburger Morgenpost bei Nachrichtenseiten und bei dem Projekt Sonntagszeitung. Auch hier ist nichts Investorentypisches festzustellen, es ist – leider – einer der Normalfälle in Konzernzusammenhängen.

M | Wie schätzt ver.di die Erfolgsaussichten der Investoren in Berlin ein? Lange Zeit hieß es ja, drei Regionalblätter könnten auf dem Hauptstadtmarkt nicht überleben.

DIECKMANN | Der Berliner Zeitungsmarkt ist einerseits absolut atypisch für Deutschland – eben wegen des starken Wettbewerbs. Andererseits gibt es auch keinen anderen regionalen Markt, der derartige Vielfalt bietet. Es waren maßgeblich die Großkonzerne, die behauptet haben, nur zwei von drei Blättern könnten überleben. Kaum hatten zwei dieser Konzerne mal die Kontrolle gelockert, die Verlage also selbstständig agieren lassen, kamen die Zeitungen und Verlage zu besseren Ergebnissen. Es ist doch ein Treppenwitz, dass ausgerechnet Stefan von Holtzbrinck, der noch vor zwei Jahren den Untergang des Tagesspiegel für den Fall, dass eine Fusion mit der Berliner Zeitung nicht genehmigt würde, mahnend beschwor, nach dem Verkauf der Berliner Zeitung an Mecom / VSS die Gewinnzone in Aussicht sah. Überlebensfähig sind die drei Blätter allemal, es fragt sich aber, ob sie auf Dauer mit ihren Konzernstrategen gut leben können.

M | Die Investoren haben angeblich noch viel vor. Gibt es unterschiedliche Strategien bei Veronis Suhler Stevenson (VSS) und Montgomery?

DIECKMANN | Es gibt zumindest bei Montgomerys Mecom-Gruppe im europaweiten Geschäft Ansätze (siehe auch S. 20 / 21) zu einem klassischen Gesellschaft­er- beziehungsweise Beteiligungsmodell. Montgomerys Orkla-Deal trägt jedenfalls nicht die Handschrift eines klassischen Finanzinvestments. Hier wird man die weitere Entwicklung abwarten müssen. Zeitungen zu erwerben ist ein teures Geschäft, und ob beispielsweise VSS den Zuschlag beim nächsten Revirement erhält, weiß man nicht. Im Hintergrund ist viel Bewegung. Das gehört zum Geschäft. Wer da Treibender und wer Getriebener ist, erkennt man erst im Nachhinein. Im Übrigen ist es ja auch so, dass die Strategie der Investoren auf alle Medienmärkte zielt. Da geht es nicht nur um Zeitungen.

M | Hat der Qualitätsjournalismus angesichts der hohen Renditeerwartungen der Investoren in Berlin und anderswo eine Überlebenschance?

DIECKMANN | Mit Verlaub, im Moment bedrohen nicht primär Investoren, sondern die traditionellen Verlage und Konzerne massiv den Qualitätsjournalismus. Ohne hier unsere eigene Kritik am Investment in Berlin relativieren zu wollen, aber die Hauptgefahren liegen in ganz normalen und die Publizistik substanziell gefährdenden Unternehmensstrategien. Kahlschläger sind ja derzeit nicht die Berliner Investoren, sondern ganz gewöhnliche Verleger. Das Berliner Beispiel zeigt aber, dass man durch gewerkschaftliches und redaktionelles Handeln die Entwicklung beeinflussen kann. Man muss sich nur mit dem jeweiligen Geschäftsmodell gründlich vertraut machen und entsprechend vorgehen. Vor allem aber gilt eines – ohne gewerkschaftliche Organisierung und Aktionsfähigkeit läuft gar nichts. Und was für Drucker und Angestellte gilt, gilt insbesondere für Redakteure. Auch hierin sollte das Berliner Beispiel Schule machen.

Das Gespräch führte Günter Herkel
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