Als Aushängeschild deutscher Hochkultur benutzt

„Das Reichsorchester“ von Enrique Sánchez Lansch

Der Fall Wilhelm Furtwängler ist hinlänglich bekannt. Immer wieder fällt der Name des bedeutenden Dirigenten im Kontext von Künstlern, die sich von den Nazis als Aushängeschildder deutschen Hochkultur benutzen ließen.

Was dagegen in solchen Debatten oft vergessen wird: Furtwängler rettete auch jüdische Musiker vor dem sicheren KZ-Tod, indem er ihnen zur Flucht verhalf. Und seinberühmtes Orchester, die Berliner Philharmoniker, die regelmäßig zu Hitlers Geburtstag spielten und das Privileg genossen, als „unabkömmlich“ vom Kriegsdienst freigestellt zu werden, wurden bislang gar nicht zur Verantwortung gezogen.

Erstmals der Filmemacher Enrique Sánchez Lansch spürt nun anlässlich des 125. Geburtstags der Philharmoniker
ihrer Vergangenheit im Dritten Reich nach. Konzertmeister Johannes Bastiaan, mit 96 Jahren der älteste noch lebende Berliner Philharmoniker, und der zehn Jahre jüngere Kontrabassist Erich Hartmann (Foto) sind Protagonisten einer Dokumentation, die sich auf sehr menschliche Weise jenen haarsträubenden Zeiten annähert,
in denen sich die finanziell ruinierten Philharmoniker der direkten Aufsicht von Goebbels Propagandaministerium
unterstellen ließen. Sánchez Lansch wirft Fragen danach auf, wie es möglich war, stoisch mit einem Geigenkasten durch ein zerbombtes Berlin zur Probe zu gehen, während andere Männer an der Front ihr Leben ließen, und was in den Köpfen der privilegierten Männer vorging, als vier jüdische Kollegen emigrierten.

Warum gab es keine Solidarität? Aus den Antworten sprechen Hilflosigkeit, Ohnmacht und ein verdrängtes schlechtes Gewissen. „Natürlich denkt man nicht immer gleich dran – werden wir jetzt nur benutzt, weil das Goebbels so will? Wir haben eigentlich nur unsere Arbeit getan“, sagt etwa Erich Hartmann.
Solche Aussagen bleiben unkommentiert im Raum stehen, und das zeichnet diesen kleinen leisen Film aus. Bilder und Lebenserinnerungen sprechen für sich. Einige ergänzen sich, andere stehen im Widerspruch zueinander. Der Zuschauer muss sich sein eigenes Bild machen und erfährt dabei, wie schwer es ist, über Menschen zu urteilen, die selbst den Druck, die Not, die Angst und die Nähe zur Kollaboration erlebt haben.
Manchmal zoomt die Kamera dabei besonders dicht und in Zeitlupe an die Gesichter heran. Das offenbart einen tiefen Blick in die Seele.

Als Furtwängler nach dem berüchtigten Konzert von Beethovens Neunter im Jahr 1942 Goebbels die Hand schüttelt, schwingen ein leichtes Zögern und Unbehagen mit. Und Bastiaan, der nicht danach fragte, aus welchem Besitz eigentlich die wundervolle italienische Meistergeige stammte, die das Ministerium ihm lieh, er verschließt beim Spielen die Augen. Nur ein 79-jähriger Bratscher äußert sich derart arrogant und peinlich, dass es einem die Sprache verschlägt. Er sagt: Ein Kollege, der als ehemaliges Parteimitglied der NSDAP das Orchester nach dem Krieg verlassen musste, sei ja „nur aus politischen Gründen dann nicht mehr genehm gewesen“ und habe
das „auch genügend gebüßt, dadurch dass er dann im Opernorchester war“.

Weitere aktuelle Beiträge

Sicher ist sicher: Eigene Adressen sperren

Journalist*innen sind in den vergangenen Jahren vermehrt zum Ziel rechter Angriffe geworden. Die Zahl tätlicher Übergriffe erreichte 2024 einen Rekordwert, so eine aktuelle Studie des Europäischen Zentrums für Presse- und Medienfreiheit (ECPMF) in Leipzig. Die Autoren benennen die extreme Rechte als strukturell größte Bedrohung für die Pressefreiheit. Einschüchterungen oder sogar körperliche Übergriffe geschehen mitunter direkt an der eigenen Haustür. Den damit verbundenen Eingriff in das Privatleben empfinden Betroffene als besonders belastend.
mehr »

Filmtipp: Mädchen können kein Fußball spielen

Der sehenswerte Dokumentarfilm von Grimme-Preisträger Torsten Körner („Schwarze Adler“) ist eine Hommage an die Pionierinnen des deutschen Frauenfußballs. Körner hat bereits ein ausgezeichnetes Buch über das Thema geschrieben („Wir waren Heldinnen“). Der Film erzählt die Geschichte mit Hilfe von Zeitzeuginnen und vielen zeitgenössischen TV- und Wochenschau-Ausschnitten von den Anfängen in den 50ern bis zur siegreichen Heim-EM 1989.
mehr »

Rechtes Rauschen im Blätterwald

Ob Neuerscheinungen, Zusammenlegungen, Relaunches oder altgediente rechte Verlage: Was die Periodika der Neuen Rechten, ihrer Parteien, Organisationen oder auch einflussreicher kleinerer Kreise anbetrifft, lässt sich gerade angesichts des rechtspopulistischen Aufschwungs der letzten etwa 20 Jahre viel Bewegung ausmachen.
mehr »

Rundfunkfinanzierung in der Sackgasse

Bisher war Einstimmigkeit gefordert, wenn es um rundfunkpolitische Fragen ging. Die Ministerpräsident*innen der Länder sollen gemeinsam agieren, zum Schutz des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Kein einfaches Unterfangen, wenn es um das Thema Rundfunkfinanzierung geht. Dass diese Praxis nun überarbeitet wird, ist Ausdruck einer Krise – wenn nicht der Demokratie, dann doch zumindest der Rundfunkpolitik der Länder.
mehr »