Ruinen überall: Das Projekt Moderne

Gescheiterte Hoffnung nach dem Terror gegen Amerika:
Eine Bildbetrachtung aus aktuellem Anlass

Was in den Medien ist, ist überall. Bilder verbreiten sich nicht nur rasend schnell, sie stellen sich auch schneller her. Schon kurz nach dem Zusammensturz des World Trade Centers war auch sein schräg aus dem Boden stehender Ruinenstumpf eine weltbekannte Ikone: Mahnmal oder symbolischer Grabstein für die vielen Menschen, denen der einst über 400 Meter hohen, über alle anderen Gebäude der Skyline hinausragende Doppelturm tatsächlich zum Grab geworden war.

Den zackig zerborstenen Rest des einstigen Welthandelszentrums sah man auch auf einem Reuters-Foto, das schon am Tag nach dem Anschlag auf einem Poster des Hamburger Abendblatts erschien. Die Überschrift lautete „Amerikaner, wir sind bei euch“ und unter dem begleitenden Text stand kleingedruckt die Aufforderung, eigene Anteilnahme zu demonstrieren: diese Seite der Zeitung sichtbar ins Fenster, an die Tür, ins Auto oder ins Schaufenster zu hängen.

Wie man bei Reuters versicherte, ist das Foto eine authentische Aufnahme vor Ort. Das ist schwer zu glauben, denn es wirkt so überlegt inszeniert, wie man es keinem Menschen unter dem unmittelbaren Eindruck solch eines Geschehens zutrauen würde. Die Ruine befindet sich links im Bild etwas im Hintergrund. Rechts vorne weht, an einem hölzernen Pfahl, die amerikanische Flagge. Die Aussage dieses Bildes dürfte überall auf der Welt verstanden werden. Aber es ist eine deutsche Botschaft an die USA, vermittelt in einer Bildtradition, die für die historische Verbundenheit beider Länder stehen kann: die der deutschen Romantik, für die als berühmtester Malername Caspar David Friedrich steht, mit der amerikanischen Romantik des 19. Jahrhunderts. Der Reuters-Fotograf griff bewusst oder unbewusst ganz direkt auf Bildmittel Friedrichs zurück: auf die zerklüftete Silhouette einer Ruine, bei Friedrich meist die einer gotischen Kirche. Auch in den Sinn kommt das schräg aufragende Wrack von Friedrichs „Schiff im Eismeer“. Das Bild hieß früher „Die gescheiterte Hoffnung“. Auch wenn die Hamburger Kunsthalle diesen Titel nicht mehr führt, haftet er wie ein kollektives Gedächtnis an dem berühmten Gemälde. Die US-Flagge steht einsam in der Leere wie Friedrichs Kreuz an der Ostsee.

Auch andere kunsthistorische Anleihen sind auszumachen. Die wie Baumstümpfe aufragenden Ruinenteile erinnern an die zerfetzten Formen der Kriegsbilder von Otto Dix aus den 1920er Jahren. Nun ist der innere Bilderschatz der meisten Menschen heute eher von Hollywood als von der Kunstgeschichte geprägt. Das Reuters-Bild mag auch an Kamerafahrten über verwüstete Schlachtfelder in Kriegsfilmen denken lassen. Aber auch die Darstellungsmittel filmischer Schlachten und Katastrophen verdanken der romantischen Malerei einiges.

∗ Ich habe die Zeitungsseite nicht ins Fenster gehängt. Das Bild vermittelt eine andere Botschaft als nur Beistand und Mitgefühl. Unter Rückgriff auf eingespielte Bildmuster wird der Ort des Terrorangriffs zum klassischen Schlachtfeld eines Territorialkrieges, das World Trade Center zur Kirche, die amerikanische Flagge zum christlichen Kreuz. Nicht das ökonomische und militärische, sondern das religiöse Herz der USA ist hier das getroffene. Nicht das NATO-Bündnis oder Verpflichtungen aus der Hilfe der Amerikaner bei der „Auferstehung aus Ruinen“ nach dem Zweiten Weltkrieg rufen zum möglichen militärischen Beistand auf, sondern das Gebot der christlichen Nächstenliebe. Unter dem Zeichen dieses Bildes ließen sich Vergeltungsschläge der USA als christlicher heiliger Krieg interpretieren. Genau das wäre, auf die Spitze getrieben, die Konsequenz der Missinterpretation des Terroraktes als Kampf der Kulturen, als Angriff auf die westliche Zivilisation und ihre Werte im Allgemeinen.

Ich übertreibe bewusst, um zu verdeutlichen, wie bedeutsam die auch ästhetische Verarbeitung solch eines Ereignisses ist. Tausende Menschen mussten sterben, weil die Gebäude, in denen sie sich aufhielten, Symbole sind. Der Anschlag galt weniger ihnen als der Architektur beziehungsweise dem, was sie verkörperte oder was man in ihr sah und treffen wollte. Die Interpretation von Symbolen scheint für Terrorakte noch entscheidender als in herkömmlichen Kriegen.

Das World Trade Center war ein Symbol, und als es zerstört war, wurde daraus sofort ein neues Symbol. Wenn aber nur der Symbolträger, nicht die Bedeutung neu ist, findet die notwendige Verarbeitung nicht statt. Unter dem unmittelbaren Ereignisschock reicht es nur zum Alten. Doch bei Caspar David Friedrich darf es nicht bleiben. Ruinen bedeuten nicht dasselbe wie vor 200 Jahren. Der Anblick ihres Verfalls stand für Vergänglichkeit schlechthin. Man errichtete mit Absicht künstliche Ruinen, weil sie zu philosophischen Meditationen inspirierten. In der Ruine verkörperte sich der Kreislauf, in dem die Menschen und alles, was sie der Natur abringen, schließlich von ihr zurückgeholt werden. Die Frage, ob die Ruinen irgendwann einmal durch Kriege oder Naturkatastrophen plötzlich und gewaltsam in ihren Zustand gerieten, trat eher in der Hintergrund.

∗ Ruinen scheinen universell verständlich, auch heute noch. Sie haben, semiotisch gesprochen, eine unmittelbare ikonische Bedeutung, den offensichtlichen Hinweis auf Zerstörung.

Daneben verweisen sie, ganz allgemein, indexikalisch darauf, dass etwas da war, was nicht mehr ist (so wie es heute alle existierenden Fotos und Videoaufnahmen des noch stehenden WTC tun). Die Frage allerdings, warum etwas nicht mehr da ist oder wie man mit der Ruine umgeht, was sie „symbolisiert“, die zeichentheoretisch dritte Ebene, scheint davon seltsam unabhängig. Ruinen sprechen das Gefühl so stark an, dass sie den interpretierenden Verstand nicht unbedingt zu brauchen scheinen. Auch kulturelle Grenzen scheint die Ruine spielend zu überwinden.

Man muss kein Japaner sein, um von Ryuji Miyamotos eindringlichen Schwarzweißfotos des erdbebenzerstörten Kobe unmittelbar berührt zu sein. Wie wir die Fotos wahrnehmen, hängt aber auch davon ab, dass wir um die Ursache der Ruinen wissen. Es handelt sich um eine Naturkatastrophe, und so sehen wir die Bilder mit anderen Gefühlen, als wenn sie Kriegszerstörungen zeigten. Die ruinöse Kowloon Walled City in Hong Kong, von Miyamoto über einen längeren Zeitraum hinweg immer wieder fotografiert, entstand anders. Sie wurde bewusst entvölkert. Ihr letztendlicher Zustand beruhte auf Vernachlässigung und Immobilienspekulation.

Im südostasiatischen Raum ist seit ein paar Jahren eine spezifische Form der Ruine geläufig, die man im „Westen“ kaum kennt. Es sind die zahlreichen halbfertig gebliebenen Gebäude, Wohn- oder Bürotürme, Einkaufszentren oder funktionslos herumstehende Betonpfeiler, auf denen Highways oder Trassen für Nahverkehrszüge gebaut werden sollten. Der schlagartige ökonomische Einbruch der sogenannten Asienkrise führte viele Investoren und ganze Staaten in die Pleite. Es gab kein Geld mehr, weiterzubauen, und so wurde zur funktionslosen Ruine, was zur Nutzung noch nicht einmal bereit war. Der thailändische Künstler Manit Sriwanichpoom führt solche Bauruinen der Asienkrise in einer Fotoserie vor, die er „Dream interruptus“ genannt hat. Auch das zerstörte World Trade Center symbolisiert einen unterbrochenen Traum. Aber ist es nur der Traum von Freiheit, Demokratie, Sicherheit, aus dem uns eine Handvoll todesbereiter Terroristen geweckt hat?

∗ Die Zerstörung des World Trade Centers war ein plötzlicher, kriegerischer Gewaltakt. Aber auch die Ruinen, die Sriwanichpooms Fotos zeigen, sind Resultat eines plötzlichen, unvorhergesehenen Ereignisses. Von einem zum anderen Tage wurde nicht mehr weiter gebaut, weil, wenn man den eigenen Worten des Künstler folgt, eine Kriegshandlung stattgefunden hat. Es war kein militärischer Angriff mit Tausenden von Toten, aber ein Super-Gau innerhalb eines Geschehens, das Sriwanichpoom den „Bloodless War“ nennt: den Krieg ökonomischer Interessen, der in Ländern wie Thailand auf brutalste Weise ausgetragen wird.

Ein Nachdenken darüber, wie heute Ruinen entstehen, bedarf einer neuen Ruinenästhetik. Vielleicht brauchen auch wir Europäer sie nicht mehr, wenn wir uns genau der Frage verstärkt zuwenden, die der Romantik nicht so wichtig war: wie die Ruinen entstanden sind. Diese Frage sollte differenzierend dahingehend weiterverfolgt werden, ob scheinbar unterschiedliche Entstehungsarten nicht doch auf ähnliche Ursachen zurückführen. Der Restruine des jahrzehntelang von Millionen Berufstätigen und Touristen betretenen World Trade Centers liegt als tiefere Ursache der gleiche Bloodless War zugrunde wie den nie genutzten Bauruinen der Asienkrise. Eine Rechtfertigung dafür, brutaler ökonomischer Ungerechtigkeit mit blutigem Terror zu antworten, ist das nicht. Aber es widerspricht denen, die immer noch von einem Angriff barbarischer Kräfte auf Freiheit und Demokratie sprechen. Hinter der Barbarei des 11. September 2001 verbirgt sich die Barbarei, die überall dort herrscht, wo diejenigen, die von Freiheit und Demokratie sprechen, sich selbst nicht um sie bemüht haben.

∗ Es ist sicher angemessen, den Angriff auf das World Trade Center als die eigentliche Jahrhundert- oder Jahrtausendwende zu betrachten. Er steht für das vorläufige Scheitern des „Projekts Moderne“, das meinte, kulturelle Werte universalisieren zu können und letztlich doch nur ökonomische Werte zur Allgemeingültigkeit brachte. Um Geschichte überhaupt noch weiterzudenken, müssen wir umdenken. Den bescheidenen Vorschlag aus Sicht eines Menschen, der sich mit Kunst, mit Ästhetik beschäftigt, wollte ich mit diesem Text machen: den Vorschlag für eine neue Ruinenästhetik, die sich von eurozentristischen Traditionen löst und die heute existierenden Ruinen als ästhetische Symbole für den Zustand der Welt zu interpretieren weiß. Wer anderen Kulturen vorwirft, sie befänden sich noch im Mittelalter, sollte selbst mit zeitgemäßen Bildern arbeiten.


 

  • Ludwig Seyfarth ist Kunsthistoriker und Ausstellungskurator in Hamburg.
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