„Medien und Menschenwürde“ auf der Internationalen Funkausstellung
„Big brother“ war durch den Roman „1984“ von George Orwell noch bis vor einigen Jahren Symbolbegriff einer Alptraum-Gesellschaft. Inzwischen hat ein Fernseh-Container-Unterhaltungs-Programm das Symbol neutralisiert. So umrissen auch die Veranstalter einer Diskussion auf der Internationalen Funkausstellung in Berlin die Ausgangsposition für ihr Podium.
Dort sollten unter dem Titel „Fernsehen im Zeitalter der Käfighaltung“ Fachleute diskutieren: Spiegeln die TV-Sender mit ihren Programmen nur ein verändertes gesellschaftliches Klima wider? Was haben wir vom Fernsehen im Zeitalter der Käfighaltung an Tabubrüchen noch zu erwarten? Verschwindet die Intimsphäre? Wer schützt die Privatheit?
Gemeinsame Veranstalter waren die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), die Evangelische Medienakademie, der Deutsche Kulturrat und die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di).
Johanna Haberer wusste, welche Rolle sie mit ihrem Vortrag auch ausfüllen würde: Die Professorin für Christliche Publizistik in Erlangen und frühere Rundfunkbeauftragte der EKD sah sich auch in der Rolle der Medienwächterin mit „den immergleichen Moralismen“, deren „Dauerentrüstung“ nerve und langweile, da sich die Argumente „schleifenartig“ wiederholten. Trotz alledem: „Aber ich denke, es gibt Entwicklungen, die müssen kommentiert werden, immer wieder, wenn die Argumente es verdienen, festgehalten zu werden.“ Und sieht sie sich selbst auch „erfolglos immer wieder dasselbe sagen“, so zeigen sich einige Sender durchaus schon empfindlich gegenüber Kritik: Haberer musste auf das geplante Zeigen von Beispielen verzichten, da die angesprochenen Sender die Ausstrahlungsrechte dafür verweigerten – ProSieben für die „Ingo-Appelt-Show“ ebenso wie MTV für Schlingensief-Auftritte und RTL 2 selbstverständlich für „Big-Brother“-Beispiele.
RTL-Jugendschutzbeauftragter Dieter Czaja ging darauf in der Diskussion nicht ein. Während Haberer noch das „Selbstbestimmungsrecht des Individuums“ hochgehalten und dieses als Teil der Menschenwürde dargestellt hatte, auch davon gesprochen hatte, dass Arbeitslose oder hoch Verschuldete zur „Selbstaufgabe von gesellschaftlich garantierten Freiheiten“ gebracht worden seien, so zum Beispiel die „Big-Brother“-Mitspielerin Sabrina, sah Czaja in alledem kein grundsätzliches Problem. Er sprach statt dessen von „Versäumnissen“ der Produktionsfirma von John de Mol, wie überhaupt eigenständige Produktionen für die Sender ein Problem seien: „Wir sind da zum Teil Produktionsfirmen ausgeliefert.“ So einfach war es für den RTL-Vertreter, über das Problem grundsätzlicher ethischer Positionen im Fernsehen nach der „kopernikanischen Wende“ von „Big Brother“ (so Moderatorin Luzia Braun von der ZDF-Sendung „Aspekte“) hinwegzugehen.
Kein Verständnis für Ethik
Haberer fand bei den Fürsprechern des privat-kommerziellen Fernsehens – neben Czaja noch Joachim von Gottberg als Vorsitzender des Vereins „Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen“ – mit ihrem theologisch begründeten Plädoyer für den Respekt vor der Menschenwürde als letztlich etwas Heiligem, Staunenswerten so wenig Gehör wie Gerd Nies vom ver.di-Bundesvorstand für seine Forderung nach Respekt für die Menschenwürde aus politisch-historischen Gründen. Nies erinnerte daran, dass die Unantastbarkeit der Menschenwürde aus der Erfahrung mit dem deutschen Faschismus in den ersten Artikel des Grundgesetzes Eingang gefunden habe. Nies warf den Verantwortlichen der Fernseh-Container-Sendung vor, sich gar nicht ernsthaft mit den Problemen auseinandergesetzt zu haben, die ihr Sendeformat aufgeworfen habe, nämlich Menschen zu Objekten einer Schaustellung zu machen. Entscheidend für eine weitere Diskussion darüber hält der ver.di-Vizevorsitzende vor allem die Rückwirkung solcher Sendungen auf die Gesellschaft, auf das Menschenbild, das damit geprägt werde.
Damit griff Nies einen Gedanken auf, den der zweite Hauptreferent schon unterstrichen hatte, nämlich Prof. Dr. Jo Groebel, Direktor des Europäischen Medieninstituts. Auch er ist einer der von Haberer genannten moralischen Medienwächter, und auch er brachte unter Verweis auf neueste Beispiele die Argumente vor, die „es verdienen, festgehalten zu werden“, ohne Resonanz bei denen, die es beträfe.
Für Groebel führt eine Linie von der nahezu vollständigen Erfassung menschlichen Alltags durch Fernsehkameras im TV-Container zur totalitären Überwachungsgesellschaft des „Big Brother“, wie sie – so seine Behauptung – Aldous Huxley deutlich gemacht habe. Irrt sich Groebel auch bei dem hinzugezogenen Gewährsträger und verwechselte Huxley mit George Orwell, so ist Groebels Rekurs auf die „schöne, neue Welt“ nicht völlig falsch: Die Funktion der betäubenden Droge Soma aus Huxleys Roman übernehmen – so wie die Medienkonzerne heute auftreten – inzwischen das Fernsehen und die ganze schöne, neue Medienwelt, die sich aus ihm entwickelt hat, und zwar insgesamt und nicht allein in ihren grellsten Formaten. (Und die öffentlich-rechtlichen Veranstalter haben sich inzwischen ganz ordentlich eingefühlt ins privat-kommerzielle Medienverständnis.)
So hatte Huxley schon literarisch die im Vorwort seiner negativen Utopie gestellte Frage beantwortet, „wie man Menschen dahin bringt, ihr Sklaventum zu lieben“. An deren Beantwortung versuchten sich in Berlin dagegen die moralischen Medienwächter an Hand neuester TV-Aktivitäten vergeblich: „Verwunderlich, warum und wie man Menschen dazu bringt, dass sie anbieten, sich die Hand vor laufender Kamera abhacken zu lassen, sich die Zähne einschlagen zu lassen oder 1000 nackte Ärsche zu küssen. Dies hat – wohlgemerkt – nicht stattgefunden, aber es waren die Antworten auf eine Radioumfrage: Was würden Sie für 250.000 Mark tun?“ – so die hilflose Klage Haberers. Im gleichen Sinn Groebel, als er von der Bereitschaft von Mitspielern japanischer Fernsehshows berichtete, sich blutige Verletzungen zu holen, oder dem Vorgehen des brasilianischen TV-Stars Ratinho (wörtlich: „die kleine Ratte“), Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen zu Schau zu stellen.
Von Menschen- und Tierhaltung
Menschenwürde und Medien? Den realen Zusammenhang für die gegenwärtigen bundesrepublikanischen Verhältnisse haben die IFA-Aussteller hergestellt, indem sie in ihren Präsentationen implizit die „Sicherung des Selbstbestimmungsrechtes des Individuums“ (so eine der Umschreibungen von Menschenwürde durch Johanna Haberer) negiert und Menschen reduziert haben auf den Konsumenten. Diesem wird mit immer neuen Angeboten an TV-Formaten, technischen Neuerungen und neuen Medien immer mehr die Möglichkeit genommen, im Sinne der Aufklärung autonom zu handeln, „wobei die Autonomie, von der die Aufklärer sprachen, eine Selbstbestimmung im Rahmen der Vernunft meinte und Vernunft zumindest auch die Einsicht in die eigenen Schwächen, Beschränkungen, Manipulierbarkeiten voraussetzt“. (Nochmals Haberer, aber eben beschränkt auf voyeuristische Fernsehformate wie „Big Brother“ oder „De bus“). Was aber, wenn es gerade um die Ausschaltung der Vernunft geht, Reflexion zugedröhnt und -gewummert wird, Scheinwerfer, Licht-Shows und Flashs nicht mehr der Erhellung, sondern der ununterbrochenen Ablenkung im Zehntelsekundentakt dienen? Dann sind wir auf der „Internationalen Funk-Austellung 2001“, die Technik nur noch um ihrer selbst willen feiert.