Mehr Objektivität

Die Transformation der Demokratie in der Presse

Ein Veranstalter ärgert sich, weil eine Rezensentin den kulturellen Wert von Militärmusik generell in Frage stellt, statt die Musik eines Bundeswehr-Korps im Detail zu würdigen. Auch aus den Redaktionen kommt immer öfter die Forderung nach „mehr Objektivität“ in der Berichterstattung.

Doch unter Objektivität wird nicht nur schlichtes journalistisches Handwerk, „Check und Gegencheck“, verstanden, sondern mitunter zudem, ob alle maßgeblichen Institutionen, die über Geld, Rechtsabteilungen oder Machtpotential verfügen, gleichermaßen zu Wort kommen. Allerdings vor allem im positiven Sinn. Der Name einer Sicherheitsfirma, die skandalöse Arbeitsbedingungen vertraglich fest schreibt, wird hingegen in aller Fürsorge anonymisiert. Kein neues Phänomen: In ihrem Buch „Transformation der Demokratie“ beklagen der kürzlich verstorbene Johannes Agnoli und Peter Brückner, dass „die Spielregeln der Demokratie auf die Wirtschaft keine Anwendung“ fänden. Das war in den 70er Jahren. Diese Spielregeln haben sich bis heute nicht geändert.

Im Gegenteil, obgleich Chefredakteure auf Medienkongressen stets behaupten, man sei durch die Wirtschaftskrise besonders sensibilisiert, sich durch Anzeigen nicht korrumpieren zu lassen, verschärft sich diese Scheinobjektivität merklich. Wie kommt ein solches Klima zustande? Wieso wird anstelle des engagierten sozialen Berichts über Minderheiten, jetzt häufig jene zeitgeistige Meinungsvielfalt als journalistische Kür betrachtet? Agnoli und Brückner verweisen auf die Psychologie verinnerlichter Unterwerfungsrituale. Diese seien dadurch geprägt, „dass der einzelne in der Totalität seiner Lebenszusammenhänge den ökonomischen Mächten und Interessen pflichtig“ werde. Agnoli und Brückner spielen damit auf die im Kapitalismus unvermeidliche Eingliederung des Individuums in die Arbeitswelt an, einzig um persönliche Würde zu erhalten. Davon sind auch Journalisten nicht ausgenommen.

Positive Exempel wie das der „Aachener Zeitung“ werden seltener: Trotz diverser Einschüchterungsversuche und Blöffs seitens des Unternehmens – „Ihre Mitarbeiterin hat den Prozess vorzeitig verlassen, danach gab es erst die entscheidende Wendung“ – berichtete man schonungslos und wahrheitsgetreu über den im Bahn-Korruptionsprozess verurteilten und in der Region ansässigen Stolberger Unternehmer Ewald Schmitz. Ein Beispiel journalistischer Courage.

Geht es hingegen um eine gesellschaftliche Gruppierung, die weder über eine Lobby verfügt, noch über Mittel, sich zu wehren, sind Journalisten manchmal wenig zimperlich. Dies stellt sich so dar: Unter dem Titel „Abschiebung: Kurse für mehr Menschlichkeit“ äußert sich eine Journalistin in einer Frankfurter Tageszeitung: Aus dem Erstickungstod des Sudanesen Aarmir Ageeb und des Nigerianers Kola Bankole, die beide durch Gewaltanwendung bei der Abschiebung zu Tode kamen, habe „man gelernt“. Was man gelernt hat? „Die Atemwege der Abzuschiebenden dürfen nicht mehr beeinträchtigt werden und es dürfen keine Verletzungen entstehen“. Als sei dies beispielhaft für besondere Humanität. Zitiert ist Klaus Ludwig vom Bundesgrenzschutz. Unreflektiert übernimmt die Journalistin weiterhin die Anschauung der Veranstalter über Schulungen der „Begleit-Beamten“: „Soziale Kompetenz ist bei der Schulung ebenso ein Thema wie die Bewältigung von Konfliktsituationen“. Einige Sätze später heißt es dann: „Einfache körperliche Gewalt“ wie das Anlegen von Fesseln und Handschellen sei aber erlaubt. Hier dokumentiert sich die Sprache unmenschlicher Bürokratie, die sich ermächtigt, über das Leben und die körperliche Unversehrtheit anderer Menschen zu bestimmen. Es wird an den Rand gedrängt. Ob Fesseln und Handschellen neuerlich unter sozialer Kompetenz verstanden werden?

Blätter aller Couleur enthalten entsprechende Berichterstattung. So zitiert eine andere Zeitung unter dem Titel „Entlastung: Minus bei Asylverfahren“ den Frankfurter Präsidenten des Verwaltungsgerichts, Reiner Stahl, der den „kontinuierlichen Rückgang von Asylverfahren“ als „erfreulich“, beurteilt. Der Journalist schildert die Hoffnung Stahls, dass „bis spätestens Ende 2003 auch alle sogenannten Altfälle abgebaut sein werden“. Weiter heißt es: „Selbst umfangreiche und damit bearbeitungsintensive Verfahren könnten jetzt zügig angegangen werden“. Was geht bloß in den Köpfen dieser Journalisten vor sich? Sie versetzen sich in die Rolle der Machthabenden, schildern deren Freuden und Hoffnungen, als seien es die eigenen. Welchen Schrecken diese Berichterstattung indes bei betroffenen Migranten auslösen mag, wurde offenbar nicht bedacht: Denn „das Abbauen sogenannter Altfälle“ heißt im Klartext: Jetzt beginnt die Verfolgungsjagd auf Menschen, die bereits länger hier leben.

Agnoli und Brückner dazu: Wahrscheinlich werde „eines Tages das Maß an geduldeter Desintegration ein Indiz für die Humanität und Freiheitlichkeit der Gesellschaft sein“. Ist ein Ausbrechen aus dem Herdenjournalismus überhaupt möglich? Die Autoren warnten: „Die Identifizierung des Bürgers mit den Interessen der Herrschaft“ beruhe auf „reflexartigem Unterwerfungsverhalten“. Das beinhalte: „Ich-Schwäche, Projektion“, sowie den „Zwang, unschuldige Dritte für verleugnete oder verdrängte Triebwünsche zu bestrafen, neurotische Bewunderung der Macht ohne jede kritische Prüfung der Realität“.

 

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