re:baltica steht für unabhängige investigative Recherche und kritischen Polit-Talk in Lettland
Riga steht noch immer unter Schock. Die lettische Journalistin Inga Springe beschäftigt, wie die meisten Landsleute, die Ursachenforschung des verheerenden Einsturzes eines Supermarktes in Riga. Das könnte sie jetzt sogar im staatlichen Auftrag machen – und das weckt bei der Vollblut-Rechercheurin gemischte Gefühle. Der Rigaer Bürgermeister Nils Usakovs schlug vor, dass Springes „baltisches Zentrum für investigativen Journalismus re:baltica“ das Unglück mit 54 Toten aufklärt – gemeinsam mit einem Think Tank und Transparency International. Eine entsprechende gesellschaftliche Untersuchungskommission wäre bisher einmalig in Europa.
Zum einen zeugt der Vorschlag von Anerkennung, zum anderen könnte es aber auch eine Falle für die Enthüllungsjournalistin sein. Denn auch Usakovs war schon Teil ihrer aufwendigen Hintergrundreportagen. Springe und ihre Mitstreiter fanden heraus, dass der gebürtige Russe Geld aus einem Propaganda-Topf Vladimir Putins bekam. „Usakovs hat ein gutes Gespür für PR“, viele Letten bezweifelten, dass staatliche Stellen verlässlich ermitteln würden, schätzt Springe diesen Schachzug ein.
Sie gründete die Agentur „re:baltica“ vor zwei Jahren, um in dem kleinen baltischen Staat unabhängige investigative Recherchen zu ermöglichen. Denn viele Medien werden von mächtigen Oligarchen beherrscht. Re:baltica finanziert sich bisher durch Spenden der Open Society Foundation (George Soros), durch das US-Außenministerium und die Society Integration Foundation der EU. Keiner der Sponsoren beeinflusst ihre Arbeit. Lettische Spender meidet Springe bisher – sie könnten schließlich mal Teil eines Beitrags sein.
Ihre Reportagen veröffentlicht re:baltica auf der eigenen Website und in der Wochenzeitung ir. Filmberichte werden dem öffentlichen Fernsehen angeboten. Bis zum Besitzerwechsel 2009 war Springe Reporterin der Tageszeitung Diena, seit der Unabhängigkeit die wichtigste journalistische Institution Lettlands. Als der schwedische Verlag Diena verkaufte, kam auch sie in den Einflussbereich lettischer Oligarchen mit eigener politischer Agenda. Aus Protest kündigte Springe gemeinsam mit der damaligen Chefredakteurin und einem Dutzend Kollegen. Neben der bedrohten Integrität gaben dramatische Etat-Einsparungen – auch beim Gehalt – den Ausschlag. „Jetzt haben wir keine vertrauenswürdige Tageszeitung mehr“, sagt Springe resigniert und erzählt von einer befreundeten Tageszeitungsredakteurin. Die meinte, ihre Arbeit sei doch gut, sie dürfe nur eben kein Thema berühren, das den Besitzer ärgern könnte – die innere Schere funktioniert also.
Auf die Idee für re:baltica kam Springe während einem Arbeitsstipendium in den USA. Sie schaute sich bei der Washington Post, Mother Jones und propublica um. Re:baltica sorgte in kurzer Zeit für einigen Wirbel. Die Agentur half einem russischen Kollegen, herauszufinden, zu welcher Bank in Riga ein weltweites Netz von Scheinfirmen zur Geldwäsche führt. Sie deckte Versuche Moskaus auf, mit der Finanzierung patriotischer Propaganda Einfluss auf die baltische Gesellschaft zu nehmen, von Fernsehsendern bis zu Schulbüchern und über eine Organisation Usakovs. Die bedeutendste Leistung war jedoch, mit einem Langzeit-Projekt über soziale Ungleichheit, Vorurteile über den armen Teil der Gesellschaft abzubauen. Die erste Reportage nannte sie „Schattenseiten des lettischen Wirtschaftwunders“. Under cover schilderte eine Reporterin die katastrophalen Arbeitsbedingungen beim litauischen Discounter „Maxima“, und in der Fischkonservenindustrie. Besonders ärgerte Springe die Aussage eines Fischfabrikanten: Lettland sei voll von arbeitsunwilligen Sozialschmarotzern, deswegen müsse er Arbeiter aus Bulgarien beschäftigen. Die lässt er dann in sklavenartigen Bedingungen arbeiten.
re:baltica unterstützt auch den Wistleblower „neo“, einen Uni-Dozenten, der Steuer-Dokumente veröffentlichte, die beweisen, dass sich die Elite des Landes selber die Taschen füllte, während sie dem Rest der Bevölkerung härteste Einbußen zumutete. Jeder fünfte Lette lebt in Armut.
Seit Kurzem erreicht Springe noch mehr Publikum, denn sie moderiert im öffentlichen Fernsehen LTV1 eine Polit-Talkshow nach dem Vorbild des BBC-Formats „hard talk“.
Die Chefs der Baufirmen des Unglücksbaus fragte sie unverblümt: „Haben sie die Baubehörden geschmiert?“ die Befragten verneinten, gerieten jedoch sichtlich ins Schwitzen.
Doch die Journalistin und re:baltica stoßen auch an ihre Belastungs-Grenzen. Sie ist die einzige Festangestellte, eine Handvoll Kollegen hilft projektbezogen. „Ich suche gerade verzweifelt nach einem Vollzeit-Redakteur als Verstärkung“. Einige Aufträge musste sie schon absagen. Zwar ist Journalist auch in Lettland ein Modeberuf für viele Schulabgänger. Doch schon während des Studiums ändern die meisten ihre Perspektive. Springe lehrte auch einige Semester an der Uni: „Höchstens 10 von 150 Journalismus-Studenten treffe ich später auch als Berufs-Kollegen wieder.“ Nicht nur die mangelnde Glaubwürdigkeit der meisten lettischen Medien dürfte der Grund sein, sondern auch die Bedingungen. Tarifverträge gibt es nicht und bisher sind Redakteure auch nicht sozialversichert. Springe, die bis vor Kurzem auch Vorsitzende der Association of Latvian Journalists war, kann sich nur begrenzt freuen, dass die Regierung das gerade ändern möchte. Denn die Sozialversicherungsbeiträge würden vom Gehalt abgezogen und die meisten festangestellten Journalisten verdienen schon jetzt weniger als 1.000 Euro im Monat.
„Die Idee einer unabhängigen Kommission aus der Gesellschaft finde ich prima“ sagt sie über den Vorschlag Usakovs. Aber sie werde wohl absagen müssen. Und vielleicht hilft sie der Aufklärung auch mehr in ihrer unabhängigen Rolle.