Das Fernsehen als Sinnstifter

Warum TV-Tabubrüche in der Wirklichkeit wertvoll sein können

Das hat sie nun davon; hätte sie ihr Geld mit ehrlicher Arbeit verdient, wäre ihr das nicht passiert. Doch Mareike, Studentin der Zahnmedizin, wollte ja unbedingt auf einen Schlag reich werden. Während andere Monate lang im Container ausharren müssen, sollte sie nur neun Tage brauchen, um 500.000 Euro einzusacken. Schneller reich kann man im Fernsehen nur bei „Wer wird Millionär“ werden.

Und die Aufgabe schien ja so einfach: Sie musste Familie und Freunde nur davon überzeugen, dass der Mann, den ihr der Sender an die Seite stellte, ihr Traumprinz sei. Natürlich hat die Sache einen Haken: „Prince Charming“ entpuppte sich als Elefant im Porzellanladen ohne Manieren, ohne Taktgefühl. Was Mareike nicht ahnt: Der Mann ist ein gedungener Schauspieler, der ihr das Leben zur Hölle machen soll.

„Mein großer dicker peinlicher Verlobter“ heißt diese Reality-Show. Sieben Wochen lang immer donnerstags durfte die Fernsehnation – je nach Temperament – voller Schadenfreude oder Mitgefühl verfolgen, wie Mareike mit Todesverachtung ihrem „Verlobten“ durch die Fettnäpfchen folgen musste. Die öffentliche Diskussion nahm zwar nicht das Ausmaß jener Empörung an, die zu Jahresbeginn die Reihe „Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!“ (RTL) ausgelöst hat. Doch auch jetzt gab es die Meinung, dass das Fernsehen wieder mal eine Grenze überschritten habe.

Das Fernsehformat mit dem dicken Verlobten war also wieder mal ein Tabubruch mit Ansage. Hinzu kommt hier das böse Spiel mit der jungen Frau, die ja nicht ahnte, worauf sie sich eingelassen hat; das war im Dschungelcamp anders, denn die beteiligte Halbprominenz war zuvor über die Mutproben und das entbehrungsreiche Dasein informiert worden. Trotzdem hatte es heftige Kritik gegeben: Das Format konterkariere „die Vermittlung wichtiger sozialer Werte wie Verständnis, Achtung und Respekt anderen gegenüber“, urteilte damals die Kommission für Jugendmedienschutz.

Tatsächlich lernen Kinder von heute, die ja in einer Medienwelt aufwachsen, schon früh zwischen Fernsehrealität und Wirklichkeit zu unterscheiden. Eine intensive Befragung Jugendlicher ergab jüngst, dass sie Shows dieser Art als Karneval betrachten, wenn auch mit gemischten Gefühlen: weil ihnen klar ist, dass man so mit Menschen eigentlich nicht umgehen darf. Warum aber sind gerade Jugendliche trotzdem so fasziniert von diesen Formaten? Warum empfinden sie wohlige Schauer, wenn bei „Scare Tactics“ (MTV) Gleichaltrige zu Tode erschreckt werden, weil angeblich ein Serienkiller um die Hütte schleicht.

Faszination Tabubruch

Es ist der Tabubruch, der fasziniert: Wie im „Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“ kann man sich lustvoll und gleichzeitig völlig geschützt seinen Ängsten hingeben. Wenn diese umstrittenen Formate neben der Volksbelustigung (und der Einschaltquotenvermehrung) überhaupt einen Sinn haben, dann diesen: den kalkulierten Non-Konformismus. Indem Werte immer wieder in Frage gestellt werden, werden sie letztlich verstärkt. Das gilt gerade für Jugendliche, die ja – allen Vorurteilen zum Trotz – ungleich wertkonservativer sind als so mancher Erwachsene. Die umfangreiche Shell-Studie bestätigt seit Jahren, dass jungen Menschen gesellschaftliche Normen und Werte wie zum Beispiel, Ehrlichkeit, Fairness und die Achtung Anderer, sehr viel bedeuten. Klare Grenzen sehen sie bei Fernsehformaten immer dort, wo Regeln verletzt werden oder die körperliche Unversehrtheit gefährdet ist.

Ausgerechnet das kommerzielle Fernsehen, dieser gleichgültige Moloch, dieser Allesfresser, ein Wertevermittler? Das dürfte Vielen nicht ins Weltbild passen. Doch die Erkenntnis ist nicht neu. Seit Kirche, Politik und Gewerkschaften enorm an Ansehen und Wirkung verloren haben, suchen sich die Menschen andere Institutionen ihres Vertrauens. Was liegt da näher als die Medien, mit denen man ohnehin acht Stunden pro Tag verbringt? Die Werte, die in neuen Formaten in Frage gestellt werden, erfahren in Spielfilmen, Serien und Soaps ihre Bestätigung: Gewalt als Mittel, ein Ziel zu ereichen, ist verpönt, Verbrechen zahlt sich nicht aus, und am Ende zählt nur die Liebe. Weltfremd? Mag sein; im Fernsehen ist das Alltag.

 

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