Türkei: ROG fordert Ende der Hexenjagd auf Journalisten

Reporter ohne Grenzen (ROG) ist schockiert über die Verhaftungswelle gegen Journalist_innen in der Türkei. In den vergangenen Tagen hat die Justiz gegen rund 90 Medienschaffende Haftbefehle erlassen und einige davon bereits vollzogen. „Die massenhaften Haftbefehle der vergangenen Tage zielen unmissverständlich darauf, unbequeme Journalisten mundtot zu machen“, sagte ROG-Geschäftsführer Christian Mihr. „Das Versprechen der Regierung in Ankara, trotz des Ausnahmezustands Grundrechte wie die Pressefreiheit zu achten, ist offensichtlich keinen Pfifferling wert. Die Hexenjagd auf kritische Journalisten in der Türkei muss sofort aufhören.“

Gegen 47 ehemalige Mitarbeiter der Zeitung Zaman wurden gestern Haftbefehle erlassen, darunter Manager und Kolumnisten. Die Polizei durchsuchte Wohnungen, der Kolumnist Sahin Alpay wurde in Handschellen abgeführt. Ein ungenannter Regierungsvertreter sagte der Nachrichtenagentur Reuters, die Kolumnisten würden nicht aufgrund ihrer individuellen Veröffentlichungen oder Äußerungen gesucht, sondern weil die Staatsanwaltschaft davon ausgehe, dass sie als prominente Zaman-Mitarbeiter über Interna der Gülen-Bewegung Auskunft geben könnten. Die ehemals regierungskritische Zeitung, die der Gülen-Bewegung zugerechnet wird, war im März unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt und von Antiterrorpolizisten gestürmt worden. Die Chefredaktion und führende Journalisten wurden entlassen.

Anfang dieser Woche hatte türkische Medien bereits über Haftbefehle gegen 42 Journalisten berichtet, darunter viele, die Korruption und Machtmissbrauch der Regierung aufgedeckt haben. Von diesen Gesuchten wurden Medienberichten zufolge mittlerweile 16 verhaftet , darunter die ehemalige Sabah-Journalistin und bekannte Regierungskritikerin Nazli Ilicak und der ehemalige Hürriyet-Onlinechef Bülent Mumay, der zuletzt auch für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ geschrieben hat.

Massive Repressionswelle seit dem Putschversuch

Seit der Niederschlagung des Putschversuchs vom 15. Juli erleben die türkischen Medien eine massive Repressionswelle. Der am 20. Juli verhängte Ausnahmezustand setzt unter anderem das Recht der Bürger aus, sich wegen Verletzungen ihrer Rechte an das türkische Verfassungsgericht zu wenden.

Die Aufsichtsbehörde für Telekommunikation (TIB) sperrte rund zwanzig Nachrichtenwebseiten, weil sie „die nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung gefährdet“ hätten. Chefredakteur Levent Kenez und Nachrichtenchefin Gülizar Baki von der als Gülen-freundlich geltenden Zeitung Meydan wurden vorübergehend festgenommen. Die Zeitung kündigte an, ihre gedruckte Ausgabe einzustellen, weil sich Druckerei und Vertriebsfirmen weigerten, weiter mit ihr zusammenzuarbeiten.

Gegen die Journalistin Arzu Yildiz von der Nachrichtenwebsite Haberdar wurde ein Haftbefehl erlassen. Der bekannte Menschenrechtsanwalt und Kolumnist Orhan Kemal Cengiz wurde vier Tage lang von der Polizei festgehalten und nach seiner Freilassung mit einem Reiseverbot belegt. Auch seine Ehefrau Sibel Hurtas, die ebenfalls Journalistin ist, wurde kurzzeitig festgenommen. 34 Journalisten wurden ihre amtlichen Presseausweise entzogen .

Die Reporterin Zehra Dogan von der feministischen Nachrichtenagentur Jinha wurde vergangenen Donnerstag im kurdischen Nusaybin festgenommen und im Verhör der Mitgliedschaft in der verbotenen PKK beschuldigt. Am Samstag ordnete ein Staatsanwalt Untersuchungshaft für sie an. Vier am Dienstag ebenfalls in Nusaybin festgenommene Journalisten der Nachrichtenagenturen Jinha und DIHA wurden nach zweieinhalb Stunden wieder freigelassen.

Gegen mehrere hundert Mitarbeiter des staatlichen Rundfunks TRT leitete die Staatsanwaltschaft Ankara Ermittlungen wegen mutmaßlicher Gülen-Verbindungen ein und suspendierte sie von der Arbeit. In einigen Fällen wurden die Suspendierungen nach der Klärung der Vorwürfe inzwischen aufgehoben.

Zur Protestmail-Aktion gegen die juristische Verfolgung des ROG-Türkeikorrespondenten Erol Önderoglu geht es unter www.reporter-ohne-grenzen.de/mitmachen/erol-oenderoglu/, zur Aktion für die in erster Instanz verurteilten Cumhuriyet-Journalisten Can Dündar und Erdem Gül unter https://www.reporter-ohne-grenzen.de/mitmachen/duendar-guel/.

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Klimakiller in der TV-Werbung

Knapp ein Drittel aller Spots in TV und auf YouTube wirbt für klimaschädliche Produkte. Das verstößt gegen den Medienstaatsvertrag, wie die am 6. Mai veröffentlichte Studie „Reklame für Klimakiller“ der Otto Brenner Stiftung offenlegt. Denn der Medienstaatsvertrag untersagt explizit Werbung für „in hohem Maße“ umweltschädliches Verhalten. Die Autoren fordern von der Medienpolitik eine strengere Regulierung klimaschädlicher Werbung.
mehr »

ARD und ZDF: Offene technische Plattform 

ARD und ZDF stellen sich mit einer Open-Source-Initiative und einer gemeinsamen Tochterfirma für den Betrieb ihrer Mediatheken als Streaming-Anbieter auf dem deutschen Markt neu auf. Beide wollen künftig zentrale Komponenten arbeitsteilig entwickeln und gemeinsam nutze, teilten sie gemeinsam mit. Zugleich sollen wichtige Bausteine als Open Source anderen Dienstleistern offen stehen. Das gelte unter anderem für den Player, das Empfehlungs- und das Designsystem.
mehr »

Negativrekord der Pressefreiheit

Mehr Übergriffe im Umfeld von Wahlen und eine Rekordzahl von Ländern mit katastrophalen Bedingungen für Medienschaffende. Die Lage der Pressefreiheit hat sich im weltweiten Vergleich weiter deutlich verschlechtert. Dies geht aus der Rangliste der Pressefreiheit 2024 von Reporter ohne Grenzen (RSF) hervor. Der Analyse zufolge befanden sich im vergangenen Jahr 36 Länder in der schlechtesten Wertungskategorie. Das sind so viele wie seit mehr als zehn Jahren nicht.
mehr »

Medienhäuser müssen Journalisten schützen

„Die Pressefreiheit ist auch in Deutschland zunehmend bedroht”, kritisiert die Bundesvorsitzende der Deutschen Journalistinnen- und Journalistenunion (dju) in ver.di, Tina Groll, zum Internationalen Tag der Pressefreiheit. Die dju in ver.di verzeichne mit großer Sorge eine wachsende Anzahl der Angriffe, die die Gewerkschaft für Medienschaffende in einem internen Monitoring festhält.
mehr »