Filter und Netzfreiheit

Das Medienangebot hat sich in den letzten Jahren rapide verändert. Vor allem die Jugend ist im Internet unterwegs und konsumiert auch hier einen großen Teil der klassischen Medienhalte und das zu jeder Zeit. Der althergebrachte Jugendschutz bedarf daher einer Anpassung an diese neue Medienwelt, darüber ist man sich einig. Allein welche Regelungen auch eine Wirkung im weltweiten Netz entfalten können, ohne es einzuengen, ist strittig.

Früher war nicht alles besser, aber vieles einfacher: weil die Welt vergleichsweise überschaubar war. Während heute nicht mal Experten die verschiedenen Regelwerke zum Jugendschutz bis ins letzte Detail durchblicken, war der Vorläufer der Gesetzgebung zum Jugendmedienschutz auch für Laien verständlich:
Jugendliche durften eine öffentliche Filmvorführung nur dann besuchen, wenn eine amtliche Stelle das Filmwerk zuvor begutachtet und freigegeben hatte. Befürchteten die Prüfer schädliche Folgen für „die sittliche, geistige oder gesundheitliche Entwicklung“ junger Menschen oder gar „eine Überreizung der Phantasie“, hatten Jugendliche keinen Zutritt. Der Text stammt aus dem 1920 verabschiedeten Lichtspielgesetz. Die Formulierung hat sich in ganz ähnlicher Form bis heute in den Gesetzen zum Schutz der Jugend erhalten, aber das Medienangebot hat sich auf eine Weise verändert, wie man es vor gut neunzig Jahren für utopisch gehalten hätte. Trotzdem wird versucht, die neue Welt nach alten Regeln zu regulieren. Dass das nicht funktionieren kann, hat spätestens das Scheitern des Entwurfs für einen neuen Jugendmedienschutz-Staatsvertrag vor knapp einem Jahr bewiesen.

Kluft zwischen Mediennutzung und Rechtsprechung

Vordergründig mögen es politische Gründe gewesen sein, die das Vertragswerk auf der Zielgeraden stoppten, doch es gab und gibt auch gute inhaltliche Argumente. Kernpunkt der Novellierung war der Versuch, das Modell der „regulierten Selbstregulierung“ aus der analogen Welt ins Internet zu übertragen. Bei Kinofilmen und Fernsehproduktionen hat sich die Arbeitsweise bewährt. Die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) vergibt die Altersfreigaben für Kinofilme und DVDs, die Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) prüft die Eigen- und Kaufproduktionen der Privatsender vor der Ausstrahlung und gibt die Sendungen in Zweifelsfällen nur mit Schnittauflagen frei. Beide Institutionen genießen breite Anerkennung. Ähnlich funktioniert die Freigabe von Computerspielen, die der Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK) obliegt. FSK und USK kontrollieren auch die entsprechenden Internet-Angebote.
Tatsächliche Effizienz kann man den Regelungen allerdings nur bei Kinobesuchen attestieren. Bei DVDs und Computerspielen sehe das bereits ganz anders aus, sagt FSF-Geschäftsführer Joachim von Gottberg, und Sendezeitregelungen im Fernsehen seien ohnehin eine Fiktion: „Wir wissen nicht genau, wer zu welcher Sendezeit zuschaut. Die alte Möglichkeit des Jugendschutzes, Kinder von Inhalten fernzuhalten, wird immer relativer. Die gegenwärtige Mediensituation führt dazu, dass die Mediengewohnheiten Jugendlicher ziemlich an dem vorbeigehen, was wir als Jugendschützer versuchen.“ Tatsächlich konsumieren Jugendliche die klassischen Medieninhalte zunehmend über das Internet. Selbst in der Altersgruppe der 6- bis 13-Jährigen schauen sich bereits knapp fünfzig Prozent Filme und Videos online an. In den Mediatheken der TV-Sender gelten zwar die gleichen Sendezeitbeschränkungen wie im Fernsehen (Filme mit FSK- oder FSF-Freigaben ab 16 nicht vor 22 Uhr, ab 18 nicht vor 23 Uhr), aber darauf nehmen illegale Filmanbieter naturgemäß keine Rücksicht.
Die massenhafte Verbreitung von Inhalten im Internet war also das Schlimmste, was dem Jugendschutz passieren konnte. Der neue Jugendmedienschutz-Staatsvertrag sollte verhindern, dass die Kluft zwischen der Mediennutzung und der Rechtsprechung immer größer wird. Man habe versucht, „einerseits die Freiheit im Netz zu achten und andererseits einen wirksamen Jugendmedienschutz zustande zu bringen“, erläutert Martin Stadelmaier (SPD), Chef der federführenden Staatskanzlei Rheinland-Pfalz, die Entstehung des Regelwerks. Es sei der Versuch eines Systems gewesen, „das Nutzerautonomie ermöglicht.“ Personen über 18 Jahre sollten das Internet ohne jede Einschränkung nutzen können, aber Erziehungsberechtigte sollten die Möglichkeit haben „zu entscheiden, wie ihre Kinder mit dem Netz umgehen. Dafür sollten ihnen technische Hilfen zur Verfügung gestellt werden.“ Stadelmaier räumt ein, es sei doch nicht so einfach gewesen wie erhofft, „analoge Gewissheiten in die digitale Welt zu übertragen.“ Für Außenstehende war allerdings schon die Regelung der analogen Welt nicht immer nachvollziehbar. Ein anschauliches Beispiel dafür ist die Unterscheidung zwischen Trägermedien und Telemedien, die prompt auch gesetzlich unterschiedlich behandelt werden. Trägermedien sind, vereinfacht gesagt, all jene Medien, die einen Inhalt materiell verbreiten (Printmedien, DVDs, CDs etcetera). Telemedien sind dagegen Massenmedien, die elektronisch verbreitet werden. Die Zuständigkeiten sind zwischen Bund und Ländern aufgeteilt, weil Rundfunk – eine Lehre aus der Zeit des Nationalsozialismus – in die Hoheit der Länder fällt.

Zutritt verboten

Ziel des Entwurfs für einen neuen Jugendmedienschutz-Staatsvertrag war es nun, mit Hilfe von Filterprogrammen auf dem heimischen Rechner den Zugriff nur auf solche Internet-Angebote zu ermöglichen, die die Eltern zuvor freigegeben hatten. Voraussetzung dafür wäre eine lückenlose Kennzeichnung gewesen, denn eine Website ohne entsprechende Markierung wäre wie ein Kinofilm ohne Jugendfreigabe behandelt worden: Zutritt verboten. Das hätte zwar automatisch alle ausländischen Websites blockiert, aber natürlich auch Einrichtungen getroffen, die über den Zweifel, Kinder und Jugendliche sittlich zu gefährden, erhaben sind. Auf der anderen Seite hielten es die Autoren des Entwurfs für zumutbar, ein von der Freiwilligen Selbstkontrolle Multimedia (FSM) entwickeltes Selbstklassifizierungssystem zu nutzen. Anhand dieses in wenigen Minuten auszufüllenden Fragebogens kann sich jeder Anbieter ausrechnen, welche Freigabe für seine Inhalte in Frage kommt. Wer dabei nicht mutwillig schummelt, wird hinterher auch rechtlich nicht belangt, wenn eine Aufsichtsinstanz (in diesem Fall die Kommission für Jugendmedienschutz, KJM) zu einem anderen Ergebnis kommen sollte. Anbieter hätten darüber hinaus nach wie vor die Möglichkeit gehabt, altersbeschränkte Inhalte nur zu bestimmten Zeiten zugänglich zu machen.

Wenig praxistauglich

Prompt hagelte es Proteste aus dem Kollektiv der Internetnutzer, die sogleich Zensur witterten. Ein Beleg für die Unausgereiftheit des Entwurfs sei die Tatsache, dass die Filtersysteme auch jene Angebote heraussiebten, deren Inhalte durch Fragen des Jugendschutzes gar nicht berührt würden (zum Beispiel Fahrpläne). Es sei eine Zumutung, wenn sich auch Anbieter völlig harmloser oder gar jugendfördernder Inhalte der Prozedur einer Kennzeichnung unterziehen müssten. Darüber hinaus sei das Modell schon allein deshalb zum Scheitern verurteilt, weil man die Eltern schließlich nicht zwingen könne, die Filter-Software zu installieren. Konstruktive Kritiker bemängelten, der Entwurf sei „wenig praxistauglich“ und widerspreche in Teilen gar „der geltenden Rechtslogik“, wie es in einem ver.di-Papier heißt. Darin wird unter anderem darauf hingewiesen, dass die Auflage, Veranstalter von sozialen Netzwerken müssten die einzelnen Inhalte kennzeichnen, dem Telemediengesetz widerspreche: Eine solche Plattform sei „nicht denkbar, wenn jeder Inhalt zuvor durch eine Jugendschutzprüfung muss.“
Entscheidender waren jedoch grundsätzliche Bedenken. Der neue Staatsvertrag würde an die Technik delegieren, was eigentlich Aufgabe der Eltern sei, hieß es aus den Reihen von Bündnis 90/Die Grünen. Den Erziehungsberechtigten müsse klargemacht werden, dass die Installation eines Jugendschutzprogramms „sie nicht aus der Pflicht entlässt, den Medienkonsum ihres Kindes im Auge zu behalten“, sagt Tabea Rössner, Sprecherin der Bundestagsfraktion der Partei. Sie kritisiert an dem Entwurf jedoch vor allem seine Entstehung: Die Verhandlungen seien jahrelang „unter weitgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit und der Parlamente geführt“ worden. Auf diese Weise sei der Eindruck „von Willkür und Realitätsferne“ entstanden.

Nichts über „Cyber-Mobbing“

Größter Kritiker in Reihen der CDU ist der Bundestagsabgeordnete Thomas Jarzombek. Auch er hält das Vertragswerk für realitätsfern, aber aus ganz anderen Gründen: Im Unterschied zum klassischen Jugendschützer, nach dessen Ansicht die größte Gefahr in jugendgefährdenden Inhalten lauert, sieht Jarzombek bei Phänomenen wie „Cyber-Mobbing“ oder „Cyber-Grooming“ (sexuelle Belästigung von Kindern und Jugendlichen in Internetforen) viel größeren Handlungsbedarf. Diese Aspekte aber hätten im Entwurf gar keine Rolle gespielt.
Ein weiterer Punkt kam in der Kritik eher am Rande zur Sprache: Zum Zeitpunkt einer möglichen Verabschiedung des neuen Staatsvertrags existierten weder das Klassifizierungssystem der FSM noch eine Software, die die Anerkennung der KJM gefunden hätte. In dieser Hinsicht ist man mittlerweile weiter: Die FSM hat Mitte des Jahres ihr System veröffentlicht, und die KJM hat zwei Jugendschutzprogramme positiv bewertet. Diese Wertung ist der erste Schritt zur endgültigen Anerkennung. Es handelt sich um eine Software der Deutschen Telekom sowie um das Jugendschutzprogramm des Vereins zur Förderung des Kinder- und Jugendschutzes in den Telemedien (JusProg e.V.). Zu den Mitgliedern gehören unter anderem Verlagshäuser, Telekommunikationsunternehmen und Spielehersteller.
Beide Programme erfüllen offenbar die Kriterien der KJM: bestimmte Altersstufen für den altersdifferenzierten Zugang zu Telemedienangeboten, hohe Zuverlässigkeit bei besonders beeinträchtigenden Angeboten und kontinuierliche Anpassung an den jeweiligen Stand der Technik. Frühere Programme sind an diesen Hürden gescheitert: die einen, weil sie zu streng konzipiert waren und auch unproblematische Web-Angebote blockiert haben, die anderen, weil sie zu viele jugendgefährdende Inhalte durchließen. Eine hundertprozentige Garantie bieten Filter ohnehin nie. Die Fehlerquote liegt bei 20 Prozent. Entsprechend dieser Einschätzung muss eine Software dank vorgegebener Sperrlisten und automatischer Klassifizierungsverfahren mindestens 80 Prozent der jugendgefährdenden Inhalte herausfiltern, um anerkannt zu werden. Auf diese Weise sollen nur solche Angebote sichtbar werden, die für die jeweils eingestellte Altersstufe geeignet sind. Darin liegt der große Unterschied zu klassischen Filtersystemen, denn bei denen entscheidet der Hersteller der Software, welche Inhalte zugelassen sind und welche nicht. Abgesehen davon müssen Eltern die Programme nach eigenen Wünschen konfigurieren können.
Mindestens ebenso bedeutsam ist die technologische Kompatibilität. Dank der Einführung des Smartphones sind auch jugendliche Nutzer längst nicht mehr auf den heimischen PC angewiesen. Ein Jugendschutzprogramm muss also auch auf den so genannten mobilen Endgeräten funktionieren und darf dort nicht ohne weiteres deinstalliert werden können. Dass sich die Software regelmäßig eigenständig aktualisiert und außerdem mit den gängigen Virenschutzprogrammen harmoniert, versteht sich von selbst. Auf der anderen Seite sollte Anbietern von harmlosen Inhalten die Prozedur der Selbstkennzeichnung erspart bleiben. Im Idealfall wäre die Software ohnehin in der Lage, die fehlende Relevanz zu erkennen. Ist das nicht der Fall, sollte ein Anruf bei der FSM genügen, um die nötige Freigabe zu erhalten. Während andere Anbieter – ähnlich wie beispielsweise Filmverleiher bei der FSK-Prüfung – einen gewissen Beitrag für ihr Freigabekennzeichen entrichten müssen, sollte der Vorgang für neutrale oder gar jugendfördernde Angebote kostenlos sein. Gleiches gilt für die Filtersoftware: Es wäre ihrer Verbreitung ohne Frage enorm zuträglich, wenn sie den Nutzer nichts kostet; von entsprechender Reklame, die ihren Einsatz propagiert, ganz zu schweigen.
Auch ohne die Ratifizierung des Staatsvertrags hat sich in den letzten zwölf Monaten eine Menge bewegt. Sobald die Filtersoftware zum Einsatz kommt, wird es begleitende Untersuchungen geben. Deren Ergebnisse dürften dann maßgeblichen Einfluss darauf haben, ob es in Sachen Staatsvertrag zu einem neuen Anlauf kommt.

Medienkompetenz stärken

Entscheidend ist aber nicht allein, was sich hinter den Kulissen tut, denn davor passiert so viel oder wenig wie schon seit Jahren. Immerhin herrscht Einigkeit in der Forderung, die Medienkompetenz von Kindern und Jugendlichen zu stärken, also die Fähigkeit, „sich selbstbewusst und eigenverantwortlich im Netz bewegen zu können“, wie es Martin Stadelmaier formuliert. Da dies in die Zuständigkeit der Schulen falle, erwartet er eine entsprechende Qualifikation des Lehrpersonals. Auch Lutz Stroppe, im CDU-geführten Familienministerium Leiter der Abteilung für Kinder und Jugend, fordert „bessere Modelle der Elternansprache und Standards in der Aus- und Fortbildung von Erziehern, Lehrern und Pädagogen.“
Nach dem Scheitern des Entwurfs haben die Bundesländer eine zwölfmonatige Sondierungsphase vereinbart. Anschließend sollen die Ergebnisse mit wissenschaftlicher Begleitung ausgewertet werden. Ende des Jahres wird beraten, ob man einen neuen Anlauf nimmt.

Gesetzliche Grundlagen des Jugendmedienschutzes

Der Jugendmedienschutz hat in Deutschland einen hohen Stellenwert. Er ist im Grundgesetz geregelt und genießt sogar Vorrang vor der Meinungsfreiheit. Arbeitsgrundlage ist der 2003 verabschiedete Staatsvertrag über den Schutz der Menschenwürde und den Jugendschutz in Rundfunk und Telemedien (Jugendmedienschutz-Staatsvertrag). Sein Ziel ist der einheitliche Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Angeboten in elektronischen Informations- und Kommunikationsmedien, die ihre Entwicklung oder Erziehung beeinträchtigen oder gefährden. Abgedeckt ist auch der Schutz vor Inhalten, die die Menschenwürde oder sonstige durch das Strafgesetzbuch geschützte Rechtsgüter verletzen. Nach dem Leitprinzip der Eigenverantwortung des Anbieters stärkt der Staatsvertrag die Einrichtungen der Freiwilligen Selbstkontrolle durch das Aufsichtsmodell der regulierten Selbstregulierung: Jeder Anbieter ist selbst für die Gewährleistung des Schutzes von Kindern und Jugendlichen verantwortlich. Er muss vor der Verbreitung von Inhalten die mögliche entwicklungsbeeinträchtigende oder jugendgefährdende Wirkung des Angebots auf Kinder und Jugendliche in eigener Verantwortung prüfen und entsprechende Schutzmaßnahmen ergreifen. Dabei kann er sich an die Einrichtungen der Freiwilligen Selbstkontrolle wenden. Hält er sich an die Vorgaben der Selbstkontrolleinrichtungen und bewegen sich deren Entscheidungen im Rahmen des ihnen übertragenen Beurteilungsspielraums, ist ein aufsichtsrechtliches Einschreiten gegenüber dem Anbieter durch die Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) beziehungsweise die jeweils zuständige Landesmedienanstalt ausgeschlossen.

tpg

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