Mitgestaltung und Mitbestimmung ist notwendig und möglich – Kongress von ver.di und der Hans-Böckler-Stiftung in Berlin
Die Zukunft ist digital und wir sind schon mittendrin. Aber wie genau sieht dieses gesellschaftliche Gebilde 4.0 aus, welche Erfahrungen gibt es bereits in digitalisierten alten und ganz neuen Arbeitsfeldern? Wie können sich Gewerkschaften und Arbeitnehmer_innen einbringen, die Veränderungen mitgestalten und ihre Arbeitsbedingungen mitbestimmen? Welche Chancen und welche Risiken bringt die Digitalisierung mit sich, für den Einzelnen und für die Allgemeinheit? „Algorithmus oder Mensch? Wer bestimmt?“ wie sich „Gute Arbeit“ in der digitalen Welt definiert, fragten ver.di und die Hans-Böckler-Stiftung auf einem Kongress am 17. und 18. Oktober in Berlin.
In einem Bochumer Krankenhaus wird die digitale Akte eingeführt oder in Fahrzeugen der BSR der Bewegungsverlauf gespeichert. Das bringt Arbeitserleichterung, wirft aber unter anderem auch Fragen des Datenschutzes auf. Hoher Weiterbildungsbedarf entsteht in einem Erfurter Ministerium, wo unterschiedliche digitale Erfassungssysteme angewendet werden. Im Bremer Gesamthafen wird seit Jahren automatisiert. Bei gleichzeitiger Arbeitsverdichtung gehen viele Arbeitsplätze verloren. In einem Jobcenter soll bis 2018 auf elektronische Aktenführung umgestellt werden. Der Personalrat beschwert sich, weil er an der Prozessentwicklung nicht beteiligt wird, da dies „angeblich nicht der Mitbestimmung unterliegt“. Um Infrastrukturfragen geht es bei der Digitalisierung in kommunalen Pumpenwerken, zum Beispiel in Essen. Wie die gesamte Belegschaft mitnehmen, fragt eine Interessenvertreterin und schlägt vor: gemischte Teams aus alten Erfahrenen und jungen Kolleg_innen zu bilden. Bei Amazon in Leipzig gibt es als Folge des rationalisierten Vertriebs von Produkten neue Beschäftigung – ohne Tarifbindung, möglichst ohne Betriebsräte! Hier ist die Politik ebenso gefragt wie bei der Verbreitung von Büchern im Internet durch Parasiten mit digitalen Geschäftsmodellen, wodurch die Urheber_innen nur noch wenig verdienen. Dem muss Einhalt geboten werden, fordert eine Schriftstellerin.
Das Gegenteil von guter Arbeit
Die kurzen Einblicke, die Vertreter_innen unterschiedlicher Berufsgruppen gaben, waren ein gelungener Auftakt des Kongresses. Alle einte der Anspruch auf Mitbestimmung und Mitgestaltung des digitalen Wandels in Arbeit und Gesellschaft. Ein Anspruch, der von ver.di bereits auf dem letzten Gewerkschaftskongress unter dem Stichwort „Gute Arbeit“ formuliert worden sei und der auch im vorliegenden Diskussionspapier „Arbeiten 4.0 braucht gleichberechtigte Teilhabe!“ seinen Niederschlag findet, sagte ver.di-Vorsitzender Frank Bsirske. Im ersten Schritt seien es „stets Menschen, die – in aller Regel aus Gründen, die mit Kostensenkung und Profitsteigerung zu tun haben – Entscheidungen Algorithmen überlassen“. Die Kriterien nach denen die Programmierung algorithmischer Entscheidungen erfolgt, müssten jedoch offenliegen. „Nur dann“, so Bsirkse, „lässt sich die demokratische Steuerbarkeit unseres Gemeinwesens sicherstellen – und damit eine erste Voraussetzung, Arbeit und Gesellschaft 4.0 tatsächlich mitbestimmen und mitgestalten zu können.“ Bisher sei die Digitalsierung erkennbar unter ihren Möglichkeiten geblieben, hebt Bsirske hervor. Vieles von dem, was bislang an Erwerbstätigkeit auf digitalen Plattformen à la Uber zu sehen gewesen sei, habe nichts mit guter Arbeit zu tun. Es erinnere eher an eine „Dumpinghölle“ (Sascha Lobo). „In ihrer Konsequenz laufen die meisten Spielarten der sogenannten Gig-Economy auf eine erbarmungslose Konkurrenz in der um Auftrage kämpfenden Crowd und auf eine komplette Entsicherung von Arbeit hinaus, darauf, aus möglichst vielen Menschen prekäre Unternehmer ihrer selbst zu machen.“ Der expandierende Plattformkapitalismus habe zudem „althergebrachte soziale Praktiken des Teilens und Helfens kolonisiert, kommerzialisiert und zur Ware gemacht“, so der ver.di-Vorsitzende. Das führe für viele nicht zu gesicherter, auskömmlicher Beschäftigung. Der Schutz der Privatsphäre am Arbeitsplatz gehe schnell verloren. Permanente Überwachung von Menschen in allen Lebenslagen befördere Duckmäusertum und führe zu Entsolidarisierung.
Neue Welten und viele Chancen
Dennoch sei es unstrittig, dass „die Digitalisierung neue Welten eröffnet“, dass viele über soziale Netzwerke den Kontakt mit Menschen auf der ganzen Welt halten, sich Chancen neuer politischer Beteiligungsformen, auch für soziale Bewegungen eröffnen, dass technische Systeme den Alltag erleichtern, dass „medizinische Diagnosen mithilfe von ‚Big Data‘-Technologien verbessert, Krankheitsfolgen mithilfe von Fortschritten in der Robotik gelindert werden können“ und dass digitale Technik „für viele Beschäftigte die Möglichkeit eröffnet, über den Zeitpunkt und vor allem über den Ort ihrer Arbeit selbst entscheiden zu können.“ Diese Potenziale gelte es zum Wohl aller weiter auszuschöpfen. So Bsirske. Wenn man so will, benötige die Digitalisierung einen Relaunch. „Sie verdient ein anderes, ein soziales Betriebssystem.“ Netze, Sensoren, Datenbanken und Algorithmen sollten genutzt werden, um öffentliche Dienste zu verbessern. Kommunen könnten selbst Plattformen betreiben, etwa um Wohnungen und andere Dienste anzubieten. Eine Charta digitaler Grundrechte könnte beinhalten, dass jeder Mensch freien Zugang zum Internet habe, jeder selbst seine digitale Identität bestimme und jede Leistung im Netz ordentlich bezahlt werden müsse.
Müllabfuhr des Internets
Zu den neuen schlecht bezahlten Jobs, die im Zuge der Digitalisierung entstehen, zählt auch der des commercial content moderators (des gewerblichen Inhaltemorderators). Über diese „Müllabfuhr des Internets“, so der Titel des Vortrags, berichtete die Wissenschaftlerin Sarah T. Roberts von der University of California in Los Angeles. So gebe es die Plattform Repording Guide, die für Faceboock arbeitet, über deren Aufgaben könne man sich informieren, alles andere sei vertraulich. Dennoch habe sie mit Beschäftigten eines Unternehmens aus dem Silicon Valley gesprochen. Das Fallbeispiel nennt Roberts „Megatech“. Den richtigen Namen kann sie nicht nennen, denn eine Voraussetzung, um bei „Megatech“ einen Job zu bekommen, ist die Unterschrift unter eine Geheimhaltungserklärung. Rekrutiert für die Arbeit als „Türsteher zwischen Nutzer und Plattform“ werden in der Regel Hochschulabsolventen von Elite-Unis, möglichst mehrsprachig und mit weiteren Kompetenzen ausgestattet. Ihre Aufgabe ist es missliebige, „schädliche“ Inhalte zu entfernen. Und natürlich gebe es auch Inhalte die gelöscht werden, um die Firmen-Marke zu schützen. Ein „schmutziger Job“, habe der 24jährigfe Josh berichtet, denn man werde mit Gewalt gegen Kinder, Misshandlung von Tieren, Hassreden und vielem anderem mehr konfrontiert. Man bedenke, so Roberts, dass zum Beispiel auf YouTube jeden Tag 100 Stunden Video pro Minute weltweit hochgeladen werden.
Solche Content-Moderatoren werden für zunächst ein Jahr, maximal für zwei Jahre über Zeitarbeitsfirmen angestellt. Dann werde davon ausgegangen, dass sie ausgebrannt seien, möglicherweise unter „Burnout“ litten und das massenhaft Gesehene nicht mehr richtig einschätzen könnten. Angetreten seien die jungen Menschen voller Hoffnung, in dem Glauben, sie hätten es geschafft, einen Job in der Medienbranche im Silicon Valley erobert zu haben, mit dem sie auch ihre Schulden zurückzahlen können, die sie für ihr Studium aufgenommen hatten. Dann erlebten sie „böse Überraschungen“, so Roberts. Das Geld reiche gerade mal zum Leben im teuren San Francisco. Sie vereinsamen, weil sie mit niemandem über ihre Arbeit reden können, bekämen Probleme in der Partnerschaft. Nach der Arbeit hänge man den Inhalten nach und habe dann kein Ventil dafür. Er trinke seit Jobbeginn mehr als je zuvor, hatte der 24jährige Max berichtet.
Natürlich gebe es Überlegungen, diese Säuberungsarbeiten etwa durch Algorithmen leisten zu lassen, was jedoch nur in Teilen möglich sei, sagte Roberts. Als Fazit klassifiziert Roberts die digitale Wirtschaft derzeit als eine „Uberization“. Das meint, Arbeitnehmer_innen befinden sich in prekären punktuellen Beschäftigungen ohne soziale Absicherung. Wir haben es mit einer Lockerung der Arbeitsverhältnisse, Deregulierung, Steuervermeidung und den „Missbrauch öffentlicher Güter für privater Gewinne“ zu tun, so Roberts.
Moderne Sklaverei
In der Diskussionsrunde um das Spannungsverhältnis zwischen neuer Freiheit und moderner Knechtschaft bei der Arbeit 4.0 wurde für Gewinner und Verlierer gleichermaßen plädiert. Natürlich komme es immer darauf an, wie die Digitalisierung eingesetzt und ausgestaltet werde. Durch Crowdworking erlebe man Prekarisierung. Technik und veränderte Marktzwänge dominieren, so Wolfgang Menz vom Institut für Sozialforschung München. Für viele bedeute Digitalisierung, unter „ausbeuterischen Verhältnissen zu arbeiten“, sagte der Frankfurter Arbeitsrechtler Peter Wedde. So könne man die Schufterei der Lagerarbeiter bei Amazon unter ständiger Beobachtung durchaus als „moderne Sklaverei“ bezeichnen. Arbeits- und Schutzrecht stünden in einem ungleichen Verhältnis. Es gelte das Arbeitsrecht zu stärken und ein Verbandsklagerecht ähnlich wie im Verbraucherschutz einzuführen, forderte Wedde.
Gegen eine „Glorifizierung des Normalarbeitstages“ argumentierte Catharina Bruns, Autorin und Gründerin unter anderem von „workisnotajob“. Sie sah vor allem mehr Chancen in der digitalisierten Arbeitswelt. Dabei bedeute mehr Freiheit auch mehr Risiko, dort wo es weniger Anleitung gebe, könne man mehr auf Irrwege geraten. Aber so lerne man damit umzugehen, anzupacken, selbst zu bestimmen, „wann und ob ich mich ausbeuten lasse“. So habe man mehr Macht über den eigenen Lebenslauf. ver.di-Sekretär Jörg Kiekhäfer hielt wie auch andere Diskutanten dagegen, dass genau das für viele Menschen so nicht möglich sei, wenngleich auch Startups durchaus Arbeitsplätze schaffen würden. Startups, die sich häufig schnell wieder in die Knechtschaft großer Unternehmen begeben würden, fügt Sabine Pfeiffer von der Universität Hohenheim hinzu. Die zentrale Frage sei: „Wie schaffen wir es, die Gesellschaft so zu gestalten, dass möglichst viele Menschen in die Lage kommen, solche eigenen Jobentscheidungen zu treffen?“ Davon seien wir in Anbetracht fehlender soziale Sicherungssysteme für alle aber noch weit entfernt.
Mehr Tarifbindung und Arbeitszeiterfassung
Mit der Digitalisierung gehe das Phänomen der Entgrenzung einher. „Wir haben den Eindruck, die Technik beherrscht uns“, sagte Yasmin Fahimi, Staatssekretärin im Bundesministerim für Arbeit und Soziales. „Das dürfen wir nicht zulassen.“ Es gelte die Vereinbarungskultur wieder zurückzuholen und die Steuerung zurückzugewinnen. Sie verwies auf Home-Office-Modelle und Arbeitszeitbörsen, die tatsächlich für die Arbeitsnehmer_innen einen Zeitgewinn bringen. Gleichfalls brauchen wir wieder mehr Tarifbindung und eine umfassende Arbeitszeiterfassung in den Betrieben, betonte die Staatssekrtärin.
„Das Zusammenspiel des Machtgefüges im digitalen Kapitalismus muss neu justiert werden.“ Es bedürfe eines neuen Arbeitnehmer- und eines neuen Betriebsbegriffes, ist Michael Guggemos von der Hans-Böckler-Stiftung überzeugt. Dabei müsse man sich nicht auf die Abhängigkeit vom Betrieb, sondern auf wirtschaftliche Abhängigkeiten fokussieren. Dazu müssten neue Rechte im Betriebsverfassungsgesetz verankert werden. Die Mitbestimmung sollte bereits bei der Entscheidungsfindung in den Unternehmen einsetzen. Mitbestimmung sei ein Stück gewachsene Nationalkultur in Deutschland, sagte Guggemos. In der Realtität fänden wir jedoch die Behinderung von Betriebsratswahlen, Mobbing gegenüber Betriebsräten, von Union Busting. „Und welches Verständnis legen Manager an den Tag, wenn sie Algorithmen mehr vertrauen als ihren Mitarbeiter_innen?“