Haftstrafen wegen sarkastischer Bemerkungen in sozialen Medien häufen sich
„Der Fall Cassandra ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt“, schreibt die spanische Professorin für Verfassungsrecht der Universität von Kastilien‑La Mancha, Ana María Valero Heredia. Die 21-jährige Studentin Cassandra Vera wurde vom Nationalen Gerichtshof in Madrid für bissige Beiträge auf Twitter zu einer einjährigen Haftstrafe verurteilt. Ein junger Mann, der seine Freundin brutal zusammengeschlagen hatte, bekam dagegen nur neun Monate aufgebrummt.
Die härtere Strafe für die junge Frau aus der südostspanischen Region Murcia ist – denn unter zwei Jahren bleibt ein Haftantritt vorerst aus – dass sie sieben Jahre kein öffentliches Amt bekleiden darf. „Man hat mir mein Leben ruiniert“, erklärte sie im Interview. Sie wollte Geschichtsdozentin an der Universität werden. Ihr sei nun auch der Zugang zu Stipendien versperrt, ohne die sie die Kosten für Studium und Studiengebühren kaum aufbringen könne.
Sie soll sich der „Verherrlichung des Terrorismus“ und der „Verhöhnung“ der Opfer schuldig gemacht haben, urteilte der für schwerste Kriminalität zuständige Nationale Gerichtshof in Madrid, wegen 13 satirischen Twitter-Veröffentlichungen. Und das ist kein Einzelfall, spricht Valero Heredia zwei weitere spektakuläre Fälle an. Zuvor wurden César Strawberry, der bekannte Sänger der Rockgruppe Def con Dos, und der Rap-Sänger Valtonyc verurteilt. Der Rapper aus Mallorca bekam sogar drei Jahren Haft, da er zudem das Königshaus beleidigt habe.
Meist geht es um Opfer der baskischen Untergrundorganisation ETA. Die Studentin hatte zum Beispiel den früheren Regierungschef Carrero Blanco aufs Korn genommen. Sie wollte gegen ein Gesetz protestieren, das schon vor 16 Jahren in Kraft trat und das Terrorismusopfer schützen soll. Als solches Opfer gilt auch Blanco, den Diktator Francisco Franco vor seinem Tod zum eigenen Nachfolger erkoren hatte. Die ETA ermordete Carrero Blanco Ende 1973, nachdem er ernannt worden war. Eine Bombe schleuderte dessen gepanzerten Wagen über ein fünfstöckiges Gebäude. Die Diktatur wurde nach fast 40 Jahren kopflos, was zu ihrem baldigen Ende beitrug. Vera twitterte dazu zum Beispiel, der frühere US-Außenminister Henry Kissinger habe „Carrero Blanco ein Stückchen vom Mond geschenkt und die ETA ihm die Reise dorthin gezahlt“.
Sie wollte mit Ironie gegen ein Gesetz angehen, das die Meinungsfreiheit beschneide, sagte sie. Obwohl sich Vera im Prozess von der ETA distanzierte und ausführlich darlegte, dass sie keine Opfer verhöhnen wollte, half ihr das nichts. Das Gericht sah darin nur Schutzbehauptungen. Sie wurde verurteilt, obwohl sich zuvor Professor_innen, Schriftsteller_innen, Journalist_innen und andere in einem Manifest für die Einstellung des Verfahrens und gegen den „Angriff auf die Demokratie“ ausgesprochen hatten. Sogar die Enkelin von Carrero Blanco hatte sich für einen Freispruch eingesetzt und sprach von einer „Absurdität“.
Nach Ansicht von Valero Heredia macht die Rechtslage aber einen Freispruch praktisch unmöglich. Im Artikel 578 des Strafgesetzbuchs hat die rechte Volkspartei (PP) festgelegt, dass es einer Absicht nicht bedürfe. „Wir haben es also mit einem Meinungsdelikt zu tun, was ganz offensichtlich verfassungswidrig ist“, resümiert die Verfassungsrechtlerin. Sie streicht heraus, Spanien stünde damit im krassen Gegensatz zur europäischen Rechtsprechung, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg immer wieder mit Urteilen gestärkt habe.
Und viele fragen sich in Spanien, warum Verfahren zu solchen Meinungsdelikten nun Urstände feiern, schließlich habe die ETA schon 2011 den bewaffneten Kampf definitiv eingestellt. 2015 gab es 24 solche Verfahren und deren Zahl nimmt ständig zu. Bisher sind es etwa 70. „Bei diesem Rhythmus am Nationalen Gerichtshof“, schreibt die Zeitung Público, dürfte dieses Jahr der Vorjahresrekord erneut „pulverisiert“ werden.
Ohnehin trifft es bisher fast nur Menschen mit einer linken Ideologie. Für zehntausende Opfer der Diktatur, die bis heute in Massengräbern liegen, Opfer staatlicher Todesschwadrone oder faschistischer Gruppen greift das Gesetz nicht. Keines dieser Verbrechen wurde in Spanien als Terror eingestuft.
Doch auf einer niederschwelligeren Ebene geht Spanien immer repressiver gegen jeden Protest vor. So wurden über das „Maulkorb-“ oder „Knebelgesetz“ nach Angaben von Reporter ohne Grenzen allein im ersten Jahr seit Inkrafttreten des „Gesetzes zum Schutz der Bürger“ im Sommer 2015 etwa 40.000 Geldstrafen verhängt. Es sieht Strafen von 100 bis zu 600.000 Euro vor, die auf administrativer Ebene ohne Richterspruch verhängt werden können. Mehr als 6000 Sanktionen wurden allein wegen „Respektlosigkeit gegenüber Sicherheitsorganen“ erlassen. Schon das Fotografieren eines auf einem Behindertenparkplatz geparkten Polizeiautos wurde als „schwerwiegender Verstoß“ mit 800 Euro geahndet. Getroffen werden auch immer wieder Journalist_innen bei ihrer Arbeit, wie Axier López, Mercè Alcocer und Esther Yáñez, die Behördenwillkür beklagen.