Mainz: Glaubwürdigkeitsdebatten von fragwürdiger Tiefe
Gibt es eine Glaubwürdigkeitskrise der Medien wegen fließenden Ineinander-Übergehens von Fiktion und Realität? Und wenn ja – hat der Trend ins Fernsehen Einzug gehalten oder nur bei YouTube und Facebook? Darüber debattierte man bei den Fernsehkritiktagen im ZDF. Keine Rede war indes vom Übergriff konservativer Politiker – wie erst kürzlich im ZDF stattgefunden.
Darüber, wie Glaubwürdigkeit beim Fernsehen zu erreichen ist, herrschen mitunter bizarre Vorstellungen. Der Redaktionsleiter des ZDF-Magazins WISO, Michael Oppoczynski, stellte bei den 43.Mainzer Tagen der Fernsehkritik die rhetorische Frage: Soll man Hartz IV-Bezieher für das Fernsehen solange stylen, bis sie als Sympathieträger wirken? Andere Probleme unter den Vorzeichen der Finanzkrise beim journalistischen Arbeiten schilderte die Produzentin Barbara Breidenbach von „Raus aus den Schulden“ (RTL): „Wir würden gern mehr von diesen Leuten ans Kreuz nageln, die unverantwortliche Kredite vergeben – aber wir müssen taktieren, weil wir den Schuldnern helfen wollen.“ Als vorrangige Auslöser für Verschuldung benennt sie: Arbeitslosigkeit, Krankheit, Scheidung. Anders als bei Angelika Kallwass („Zwei bei Kallwass“, RTL), die Partnerschaftskonflikte von Fremdgehen bis Verlassenwerden mit Laiendarstellern debattiert, sind Breidenbachs Schuldner real existent. Wenn RTL-Berater Peter Zwegat mit Sparkassen verhandeln will, stoße er oft auf Verwunderung: „Ach, Sie gibt es wirklich?“.
UFA-Chef Wolf Bauer widmete sich dem Thema „Glaubwürdigkeit“ mit dem Fazit: „Fake ist allerorten salonfähig“. Das wolle der Zuschauer eben: Unterhalten werden. Auch er gab Anekdötchen zum Besten: Bereits in den Anfängen der „Lindenstraße“ (ARD) seien in den Produktionsbüros Anfragen nach frei werdenden Wohnungen eingegangen. Nicht wenige hätten sich im Glottertal von Professor Brinkmann (ZDF) heilen lassen wollen. Jene Verwirrung habe sich verschärft, behauptete er: Auf You Tube finde man Fake-Videos und Bilder tatsächlicher Ereignisse nebeneinander. Auf Facebook und andere Internet-Communities sei kein Verlass. Verspielt sei die Glaubwürdigkeit, wenn sich die Negativwerbung des Lieblingshotels als Kampagne einer konkurrierenden Kette entpuppe.
ZDF-Intendant Markus Schächter vertrat bei den Kritiktagen zum Thema „Neue Wahrheiten – Wer traut wem in der vernetzten Welt“ die Meinung, Qualitätsmedien sollten sich nicht gegenseitig bekämpfen, sondern „eine Allianz gesellschaftspolitischer Verantwortung“ bilden. Soziale Netzwerke könnten professionellen Journalismus nicht ersetzen, sondern bedürften dessen aufgrund laienhaften Umgangs mit Information, der bisweilen gezielte PR beinhalte.
Mit der inhaltlichen Kritik mehren sich allerdings die Stimmen jener, die eine Kulturpauschale für Internet-Auftritte erheben wollen. Oder wie der Geschäftsführer von Spiegel-Online, Fried von Bismarck, Podiumsteilnehmer auf dem Lerchenberg, es ausdrückte: „Junge Leute würden gern für das Anklicken von Internetseiten einen Cent zahlen, wenn es denn so angelegt wäre“! Von einer dadurch entstehenden Ausgrenzung von Niedriglohnempfängern sprach hier niemand.
Geradezu kollektiv wurde bei den Kritiktagen verdrängt, dass das ZDF derzeit selber ein Glaubwürdigkeitsproblem hat. Erst wenige Wochen ist es her, dass der hessische CDU-Ministerpräsident Roland Koch die Begehrlichkeit der Politik, Einfluss auf Fernsehsender geltend zu machen, rigoros umgesetzt hat. Über den ZDF-Verwaltungsrat hatte Koch die Abwahl des Chefredakteurs Nikolaus Brender betrieben. Dieser hatte anschließend „ein internes Spitzelsystem“ kritisiert: Redakteure des ZDF trügen Parteien Sendeinterna zu. Doch vor der eigenen Tür sollte offenbar nicht gekehrt werden – und wurde auch nicht. Denn Markenzeichen der Kritiktage auf dem Mainzer Lerchenberg ist: Spontane Wortbeiträge kommen so gut wie gar nicht vor. Das Mikrophon wird spärlich geöffnet – passiert es doch, sind die zum Zuhören genötigten möglichen Diskutanten von ausgiebigen Selbstdarstellungslitaneien auf dem Podium bereits zu erschöpft, sich zu äußern.
Produzenten, Autoren, Journalisten und anderen Medienschaffenden im Publikum wurde zugemutet, eine selbst belobigende und nicht gerade neue Schilderung des Politikberaters Klaus-Peter Schmidt-Deguelles anzuhören: Wie er die einst „blasse Beamtennudel“ Hans Eichel erfolgreich zum „Sparminator“ der Nation aufbaute. Und wie die Medien dabei mitspielten. Seit 2008 hat Schmidt-Deguelle als Mitglied des Vorstands der WMP Eurocom AG sein diesbezügliches Können zum pompösen Business ausgestaltet, um Wirtschaft, Politik und Medien zusammenzuführen.
An das Tabu, bloß nicht an die jüngste Vergangenheit im ZDF zu erinnern, hielt sich auch Peter Frey, Leiter des Hauptstadtstudios des ZDF, der ab 1. April als neuer Chefredakteur Brenders Nachfolge angetreten hat. Einzig drei Journalistik-Studenten aus Hamburg machten schließlich dem netten harmlosen Mediengeplauder ein Ende. Sie hielten nicht, wie allgemein erwartet, einen flammenden Vortrag über die Zukunft des Fernsehens. Sie beklagten, 14 Semester Journalistik in Hamburg zu studieren, ohne Garantie auf einen Job; Kellnerjobs und unbezahlte Praktika; sowie nervige und überzogene Ansprüche in Redaktionen: Ein künftiger Journalist sei als Mitzwanziger bereits zu alt, sollte aber eine Weltreise absolviert – und dabei möglichst die Welt entdeckt und sich selbst gefunden haben. Gern gesehen sei auch der Quereinsteiger aus anderen Berufen. Solidarität und Teamgeist unter Journalisten vermisse man. Der Journalisten-Nachwuchs gab zu Protokoll: Man habe erfahren müssen, dass unter Konkurrenzdruck das Ausstechen von Kollegen geradezu zum Berufsalltag gehöre.