Buchtipp: Totschweigen und Skandalisieren

„Deutschland hat eines der weltweit besten Mediensysteme“, so beginnt Hans Mathias Kepplinger sein neues Buch mit dem dagegen recht dramatisch klingenden Titel   „Totschweigen und Skandalisieren – Was Journalisten über ihre eigenen Fehler denken“. Seine Studie beruht auf einer Befragung von Redakteurinnen und Redakteuren im vergangenen Jahr.

Die Methode seiner Befragungsaktion erläutert Kepplinger zu Beginn und noch mal im Anhang ausführlich und in allen ihren statistischen und inhaltlichen Aspekten. Von 2102 angeschriebenen Redakteur_innen von Tageszeitungen kamen 332 vollständig ausgefüllte Fragebogen zurück. Da sich die prozentuale Geschlechter- und Ressortquote der Antwortenden relativ genau widerspiegele in den Prozentzahlen der Angeschriebenen, nennt Kepplinger seine Untersuchung „repräsentativ“. Seine Fragen bezogen sich auf die Darstellung der Fukushima-Katastrophe und die Schlussfolgerungen für Deutschland, den Beginn der Pegida-Berichte, den angeblichen Hitler-Putin-Vergleich von Wolfgang Schäuble, die Medienhypes um Christian Wulff, Karl Theodor zu Guttenberg und ähnliche Fälle, die er als beispielhaft betrachtet für Skandalisierungen und Kommunikationsblockaden von Seiten der Presse. In seinem Resümee räumt er allerdings ein, dass die Wortführer zahlreicher Skandale nicht in den Tageszeitungen, sondern in den Wochenblättern oder Fernsehsendern sitzen, die aber nicht befragt wurden.

Die Hauptvorwürfe, denen Kepplinger mit seiner Untersuchung nachspüren will, sind  unprofessionelle Nachrichtenauswahl mit der Betonung von Nebensächlichem und dem Weglassen wichtiger Informationen, Orientierung an Effekten samt verdeckter Wertungen, und Willen zur Macht, zur Deutungshoheit und Selbstinszenierung statt Dienstleistung zur politischen Willensbildung der Leserschaft.

Nach der Auswertung seiner Fragebögen stellt der Kommunikationsforscher, der bis 2011 an der Uni Mainz lehrte, eine interessante Diskrepanz in den Antworten fest. Die große Mehrheit folgt seiner Auffassung von Grenzverletzungen in den diskutierten Beispielen, nur wenige verteidigen sie. Bei der Frage, ob es dennoch Gründe gäbe, die das damalige Publikationshandeln rechtfertigen könnten, gibt es allerdings eine große Gruppe der von ihm „indifferent“ Genannten, die Fehler relativieren. Für Kepplinger heißt das, „dass journalistische Berufsregeln keine festen Grenzen sind, sondern flexiblen Schläuchen zur Umrandung von Öllachen auf dem Wasser gleichen – sie werden der Größe der Verunreinigungen angepasst“.

Die Regelverletzer seien letztlich nur wenige, doch die große Zahl der Kolleg_innen, die ihr Vorgehen nicht eindeutig verurteilen, sind für den Autor das große Problem. Gibt es nur schwarze Schafe oder eine schwarze Herde? „Das Verhalten macht Grenzüberschreitungen einzelner Journalisten zu einem Kollektivversagen des Journalismus. Dabei dürfte auch der im Vergleich zu anderen Berufen besonders ausgeprägte Korpsgeist von Journalisten eine Rolle spielen.“ Kepplinger fordert deshalb einen „tiefgreifenden und schmerzhaften Wandel“ zu mehr Transparenz und Selbstkritik, den andere Branchen, auch auf Druck der Medien, zumindest schon begonnen hätten. Journalist_innen treffe heute sehr viel mehr öffentliche Kritik durch das Internet als in früheren Leserbrief-Zeiten. „Neu für Journalisten ist …, dass sie damit konfrontiert werden und dass sie damit rational umgehen müssen“, resümiert der Autor. „Aber daran führt heute auch im Journalismus kein Weg mehr vorbei“, prophezeit Kepplinger.

 

 

 

Hans Mathias Kepplinger: Totschweigen und Skandalisieren – Was Journalisten über ihre eigenen Fehler denken. edition medienpraxis 15. Herbert von Halem Verlag Köln 2017. 232 Seiten. 21 Euro.

ISBN 978-3-86962-284-2

E-Book ISBN 9783869622859 17,99 Euro

 

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Negativrekord der Pressefreiheit

Mehr Übergriffe im Umfeld von Wahlen und eine Rekordzahl von Ländern mit katastrophalen Bedingungen für Medienschaffende. Die Lage der Pressefreiheit hat sich im weltweiten Vergleich weiter deutlich verschlechtert. Dies geht aus der Rangliste der Pressefreiheit 2024 von Reporter ohne Grenzen (RSF) hervor. Der Analyse zufolge befanden sich im vergangenen Jahr 36 Länder in der schlechtesten Wertungskategorie. Das sind so viele wie seit mehr als zehn Jahren nicht.
mehr »

Medienhäuser müssen Journalisten schützen

„Die Pressefreiheit ist auch in Deutschland zunehmend bedroht”, kritisiert die Bundesvorsitzende der Deutschen Journalistinnen- und Journalistenunion (dju) in ver.di, Tina Groll, zum Internationalen Tag der Pressefreiheit. Die dju in ver.di verzeichne mit großer Sorge eine wachsende Anzahl der Angriffe, die die Gewerkschaft für Medienschaffende in einem internen Monitoring festhält.
mehr »

Beitragsanpassung unter der Inflationsrate

Seit die aktuelle Empfehlung der KEF zur Beitragsanpassung vorliegt, gibt es mehrere Ministerpräsidenten, die eine Zustimmung zu einer Erhöhung kategorisch ausschließen. Dabei hatte das Bundesverfassungsgericht vor drei Jahren bereits geurteilt, dass sich ein Bundesland dem Vorschlag der KEF im bislang gültigen Verfahren nicht einfach so widersetzen darf. M sprach mit dem KEF-Vorsitzenden Prof. Dr. Martin Detzel über die aktuelle Debatte um die Rundfunkfinanzierung.
mehr »

Filmtipp: Die Mutigen 56

Hin und wieder ist es gar nicht verkehrt, sich bewusst zu machen, wie gut es uns in vielerlei Hinsicht geht. Jedenfalls gemessen an anderen Zeiten. Vieles von dem, was uns heute selbstverständlich erscheint, musste erst erkämpft werden, zum Beispiel die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall; davon erzählt das sehenswerte Dokudrama „Die Mutigen 56 – Deutschlands längster Streik“.
mehr »