Mit Virtual Reality die Welt verändern

Dimitri Moore von Digital Promise Global zeigt, dass man 360°-Geschichten sowohl mit einem Smartphone als auch mit einer kleinen VR-Kamera wie der in seiner linken Hand erstellen kann
Foto: Christiane Schulzki-Haddouti

Die Vereinten Nationen (UN) setzen seit einigen Jahren auf Digital Storytelling in der virtuellen Umgebung. Jetzt sollen Jugendliche sich mit 360°-Geschichten der großen Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen annehmen. Bisher hat die New Yorker Virtual Reality-Abteilung ihre VR-Filme professionell produzieren lassen. Damit sollte vor allem die Spendenbereitschaft erhöht werden. Doch Empathie und Spenden genügen nicht mehr.

Die Idee ist durchaus verwegen: Jugendliche sollen experimentelle 360°-Geschichten entwickeln, die Zuschauern die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen nicht nur erzieherisch vermitteln, sondern direkt auch zum Handeln bewegen. Die Macher_innen des MY World 360°-Projekts wollen mit VR-Storytelling die ganz großen Ziele der Menschheit angehen. Die Vereinten Nationen haben sich vor zwei Jahren verpflichtet, 17 Nachhaltigkeitsziele, die sogenannten Sustainable Development Goals (SDGs), bis 2030 umzusetzen. Zu den übergreifenden SDGs zählen „Frieden“ und „Klimawandel“, zu den spezifischeren gehören etwa Korruptionsbekämpfung und Gesundheit.  Alles in allem geht es also um nichts weniger als die Rettung der Welt. In einem Jahr sollen greifbare Ergebnisse präsentiert werden. Dimitri Moore von Digital Promise Global lacht: „Wenn man das so betrachtet, kann einen das schon etwas nervös machen.“

Am 21. März wurde das Projekt von der SDG Action Campaign der Vereinten Nationen, dem Unternehmen Digital Promise Global und der Virtual-Reality-Firma Oculus gestartet. Für den Anfang startet das Projekt in Deutschland und Indien, wo die Umsetzung durch die UNESCO erfolgt, sowie in den USA. Wie die UNESCO Deutschland vorgehen wird, dazu ist bisher nur so viel bekannt: Sie wird eine Ausschreibung vorstellen, an der sich Schulen und Jugendorganisationen beteiligen können, die dann von Oculus etwa 20 Videokameras bekommen sollen. Für Indien will Samsung rund hundert Headsets zur Verfügung stellen. Abel Caine von der indischen UNESCO hat sich auch bereits auf ein konkretes Vorgehen festgelegt: Unter dem Projektnamen „Extreme Kindness for SDGs“ will er eine Ausschreibung starten, auf die sich Jugendorganisationen bewerben können, die nachweisen müssen, dass sie sich in der Vergangenheit bereits gesellschaftlich engagiert haben.

Caine: „Es genügt nicht, auf Events zu sprechen oder Demos zu veranstalten. Die Organisation sollte reale Resultate ihrer Arbeit vorweisen können, beispielsweise eine Gesetzesänderung oder einen Massenboykott, der eine Veränderung herbeigeführt hat.“ Diese nachweislich durchsetzungsfähigen Jugendorganisationen sollen dann Vorschläge für 360°-Geschichten einreichen, die zeigen sollen, wie ihre Community die Herausforderung bestimmter SDGs angeht. Für die Umsetzung der von der UNESCO ausgewählten Geschichten wird dann Dimitri Moore gerufen, der die Jugendlichen gezielt beraten soll. Am Ende sollen die 360°-Geschichten zwischen den deutschen, indischen und US-Schulen ausgetauscht werden – der Vernetzungsgedanke lebt.

Die 360°-Geschichten können mit kleinen, handygroßen VR-Videokameras produziert werden, aber auch mit 360°-Bildern, die mit speziellen Apps auf jedem Smartphone gemacht und bearbeitet werden können. Die Projektteilnahme ist daher nicht an den Besitz einer VR-Videokamera gebunden: Lisa Jobson von der Universität Berkeley, die das Projekt begleiten wird, sagt: „Jeder Jugendliche mit einem Smartphone kann an dem Projekt teilnehmen“. Online gibt es einen „Production Guide“ mit allen wichtigen Tipps und Tricks.

Dass Jugendliche bereits fast intuitiv mit VR-Technik Geschichten produzieren können, haben Moore und Jobson in den vergangenen zwei Jahren erlebt, als sie mit VR-Kameras und Oculus-Brillen bewaffnet 36 Schulen in den USA besuchten. Im Rahmen der „360 Filmmakers Challenge“ konnten sich Schüler_innen und Lehrer_innen für VR-Projekte begeistern. Letztlich nahmen rund 1.200 Schüler_innen an dem Projekt teil. Lisa Jobson ging es darum, den Teilnehmenden Medienkompetenz zu vermitteln: „Zum einen soll den Jugendlichen der Zugang zur VR-Technik ermöglicht werden. Zum anderen wollen wir aktive Partizipation statt Konsum anregen, um eine möglichst starke Nutzungserfahrung zu erzeugen.“

Einige der Ergebnisse des Schulprojekts präsentierten Moore und Jobson diese Woche auf dem Global Festival of Action der UN in Bonn. „Am leichtesten fiel es den Teilnehmern von Theatergruppen, sich auf die Eigenheit der 360°-Geschichten einzulassen“, sagt Dimitri. Die besondere Herausforderung bestehe nämlich darin, die körperliche Raumerfahrung zu einer Gefühlserfahrung im virtuellen Raum zu machen, den Zuschauer also direkt in ein bestimmtes Erfahrungsumfeld zu versetzen.

In einer 360°-Geschichte setzten die Schüler_innen die VR-Kamera an die Position einer Schülerin, die an sozialen Ängsten litt. Der Zuschauer erlebte aus der Ich-Perspektive die Mobbing-Attacken, die die Schülerin befürchtete, aber nicht wirklich erlebte. Mit Hilfe des Films konnte eine Schülerin, die unter Angstattacken litt, ihren Mitschüler_innen ihre Lage besser vermitteln. In einem anderen Fall erzählten die Schüler_innen aus einem Städtchen in Ohio die Geschichte eines Mädchens, das Opfer einer Entführung durch Menschenhändler wurde. Die Stadt führt in den USA die Statistik für „verschwundene Personen“ an und die Schüler_innen zeigten ihren Film anschließend dem Bürgermeister und dem Stadtrat, um sie für das Thema zu sensibilisieren.

Für Dimitri Moore ist VR eine Möglichkeit, Empathie zu erzeugen und mit anderen Menschen zu teilen. Auch die VR-Industrie wirbt damit, dass mit VR-Darstellungen mehr Empathie für die Lage anderer erzeugt werden kann, womit sie inzwischen aber auf fundierte Kritik stößt. Eine Evaluierung des Schulprojekts kommt zu dem eher vorsichtigen Ergebnis, dass VR – „die richtige Unterstützung im richtigen Kontext vorausgesetzt“ – die Fähigkeit vermitteln kann, die Perspektive anderer einzunehmen. Berichtet wurde dies nicht nur über Schüler_innen, sondern auch Lehrer_innen, die sich danach besser in die Perspektive ihrer Schüler_innen versetzen konnten. VR ist damit aber noch keine automatische „Empathie-Maschine“, wie manchmal behauptet wird.

Für die Vereinten Nationen ist der Schritt hin zu jugendlichen Akteuren als VR-Bürgerjournalist_innen neu – und sie sieht dabei vor allem auf den aktivierenden Moment, den auch die Schüler und Lehrer während der Produktion ihrer VR-Filme erlebten. Bisher hat die New Yorker VR-Abteilung ihre VR-Filme vornehmlich professionell auf Ausschreibungen hin produzieren lassen. Auf dem Festival stellte beispielsweise die britische Filmregisseurin Charlotte Mikkelborg in einem VR-Zelt den Kurzfilm „The Journey“ vor, der die Geschichten über entscheidende Momente in den Leben dreier Kinder und Jugendlicher in Äthiopien, Südsudan und Tschad erzählt.

„Ich will positive Geschichten mit Perspektive erzählen“, sagt Mikkelborg.  Die Zuschauerresonanz sei gut gewesen, aber für eine Auswertung sei es noch zu früh. Gefragt nach einer Evaluierung kommt Mikkelborg umgehend auf das Thema „Spenden“ zu sprechen. UN-interne Auswertungen hätten gezeigt, dass sich die Spendenbereitschaft im Vergleich zu einer Ansprache ohne VR-Film verdoppelt und der durchschnittliche Spendenbetrag um zehn Prozent höher ist.

Angeblich hat die VR-Gruppe der UN auch schon eine App gebaut, die den Zuschauer noch während der VR-Anwendung in die Spendenhose greifen lässt. Auf der Website informiert die VR-Abteilung allerdings nur vage darüber, dass VR einen „signifikanten“ Einfluss auf die Spendenbereitschaft habe. Nicht nur für die UN, auch für die VR-Industrie, die sich mithilfe von Gerätespenden bemüht, jenseits der skandalbelasteten Spielebranche neue Märkte zu erschließen, scheint das jedenfalls eine gute Nachricht zu sein. Für das neue Schülerprojekt aber soll das Akquirieren von Spenden allein nicht ausreichend sein.

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