Neutralitätspflicht?

Debattenbeitrag zum Thema „Journalist und Aktivist” in M 1/2014 und 3/2014

Die Redakteure der Zeit Online, Kai Biermann und Patrick Beuth, werfen dem Journalisten Gleen Greenwald vor, er habe es an der notwendigen Distanz zu „Aktivisten und Bürgerrechtlern” fehlen lassen und sich mit ihnen „gemein” gemacht. Weiter heißt es: „Kann jemand gleichzeitig Journalist und Aktivist sein? Der eine soll beobachten und beschreiben, der andere soll kämpfen und überzeugen.”


Die Fülle der Diskussionsbeiträge zeigt, dass Meinungs- und Redefreiheit selbst nach nunmehr zwei Generationen Bundesrepublik noch nicht verinnerlicht sind. Sonst müsste man nicht so viele Worte darüber verlieren. Aufschlussreich ist nicht nur die Wahl der Worte der Zeit-Redakteure. Viel aufschlussreicher erscheint mir das „soll”: Wer setzt denn fest, was ein Journalist „soll”? Der Chefredakteur von Zeit Online Jochen Wegner sieht die Funktion eines Journalisten darin, nach Wahrheit zu streben – wie ein Wissenschaftler. Der Bezeichner, unter dem Wegners Beitrag abgelegt ist, nämlich „greenwald-journalismus-aktivismus-neutralitaet”, zeigt auf den Kern der Debatte: Die Forderung nach „Neutralität”.
Neutralität und Wahrheit sind nach Biermann, Beuth und Wegner die Kriterien, an denen das Wirken eines Journalisten gemessen werden soll. Das klingt vernünftig. Sind wir nicht alle dieser Meinung? Das Einzige, das uns daran stört, sind doch nur die Konsequenzen. Sonst hätte die Debatte doch gar nicht so ausufern müssen. Der Bundespräsident hat doch auch eine Neutralitätspflicht! Diese wurde jetzt zur Grundlage einer Klage. Möge er doch schweigen – und Greenwald dazu!
Die gesamte Debatte ist müßig. Denn die Forderung nach „Wahrheit” und „Neutralität” sind Totschlagargumente gegen die Rede- und Meinungsfreiheit. Einfach deshalb, weil „Neutralität” eine unerfüllbare, nicht einmal denkbare Forderung ist. Das Gleiche gilt für die Forderung nach „Objektivität” und die Suche nach der „Wahrheit”. Versuchen Sie es selbst! Es ist ganz einfach: Versuchen Sie einmal die Kriterien zu benennen, mit denen man feststellen kann, ob eine Aussage „neutral” ist. Oder ob sie „objektiv” ist. Oder „die Wahrheit” ist. Ein Handeln ohne ein WARUM, ohne eine Funktion ist nicht möglich. Das WARUM, die Funktion „liefert” auch die Kriterien, mit denen wir das Ergebnis unseres Handelns überprüfen können.
Greenwalds inkriminiertes „wir” kann nur ein Anfang gewesen sein. Von einem Journalisten erwarte ich Aufrichtigkeit. Dazu gehört an erster Stelle, dass er sein WARUM offenlegt. Selbstbestimmt entscheiden kann ich mich nur, wenn ich weiß, welchen „Stellenwert” eine Information besitzt.

Von unschätzbarem Wert

Die Medien sind unverzichtbarer Bestandteil einer Demokratie: Sie sind die Vierte Gewalt. Die Forderung nach Neutralität macht nicht nur die Medien mundtot: Sie nimmt mir auch meine Freiheit. Dass zum Beispiel Schülerzeitungen nicht der Aufsicht und der Verfügungsgewalt der Schule unterliegen, ist für die Sozialisation der Schülerzeitungsredakteure von unschätzbarem Wert. Denn unser System Schule kennt kein Selbstbestimmtes Lernen, sondern verlangt Anpassung an die Anforderungen, die den Lehrern über die Bürokratie von der Politik vorgeschrieben werden.
Ich darf auch nicht fragen müssen, wie Wolfgang Michal auf carta.info sinngemäß vorschlägt: „Existiert ein Notstand, der diese ungewöhnlichen journalistischen Herangehensweisen rechtfertigt?” Selbst Wolfgang Michal scheint in seinem lesenswerten Beitrag Neutralität für möglich zu halten: „Aktivistische Journalisten begnügen sich nicht mit neutralen Beschreibungen.” Die ursprüngliche Unmöglichkeit von „Neutralität” und „Objektivität” müssen wir noch verinnerlichen und über das Gewusst-wie des Wissenschaffens noch intensiver nachdenken.

    Hans-Josef Heck, Remscheid

Weiterlesen

Hans-Josef Heck
„Neutralität – oder – Meinungsfreiheit?”
www.mit-vernunft.de/freiheit-und-vernunft/
mit vier Links zu den Themen „Neutralität, Wahrheit, Objektivität, Überprüfbarkeit”

Wolfgang Michal
Die Angst der deutschen Journalisten vor
dem Aktivismus
www.carta.info/68699/die-angst-der-deutschen-journalisten-vor-dem-aktivismus

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Nicaraguas bedrohte Medien

Die Diktatur des nicaraguanischen Präsidentenpaars Daniel Ortega und Rocio Murillo hat in den letzten Jahren immer mehr Journalist*innen ins Exil getrieben. Unter erschwerten Bedingungen berichten Menschen wie Lucía Pineda vom Nachrichtenkanal "100% Noticias" oder Wendy Quintero nun aus dem Ausland. Für diese Arbeit nehmen sie stellvertretend für viele andere am 26. November 2024 den Menschenrechtspreis der Friedrich-Ebert-Stiftung entgegen.
mehr »

KI beinflusst Vielfalt in den Medien

Künstliche Intelligenz kann journalistische Texte in verschiedene Sprachen übersetzen und damit viel mehr Nutzer*innen ansprechen. Gleichzeitig kann sie aber auch Stereotype, die in diesen Texten enthalten sind, verfestigen. Gefahren und Chancen von KI-Anwendungen im Journalismus standen im Fokus der diesjährigen NxMedienkonferenz der Neuen deutschen Medienmacher*innen (NdM), die sich für mehr Vielfalt in den Medien einsetzen.
mehr »

Fakten for Future

Menschen jeden Alters machen sich Sorgen um die Zukunft unseres Planeten. Carla Reemtsma ist Klimaschutzaktivistin und Mitorganisatorin des Schulstreiks Fridays for Future („Klimastreik“) in Deutschland. Als Sprecherin vertritt sie die Bewegung auch in der medialen Öffentlichkeit. Wir sprachen mit ihr über Kommunikationsstrategien, Aktivismus und guten Journalismus.
mehr »

Öffentlichkeit ohne Journalismus

Schwindende Titel, schrumpfende Redaktionen, immer geringere Abonnentenzahlen – dass gerade der Lokaljournalismus vielerorts unter Druck steht, ist nicht neu. Doch was bedeutet das für die lokale Öffentlichkeit, die inzwischen von vielen selbstbewussten Medien-Akteuren mitgestaltet wird? Eine aktuelle Studie der Otto-Brenner-Stiftung beschäftigt sich mit genau dieser Frage.
mehr »