Mediengezwitscher

Twitter als Recherche-Werkzeug oder als Publikationsdienst

Spätestens seit dem Amoklauf in Winnenden ist der Microblogging-Dienst Twitter im Bewusstsein der medialen Öffentlichkeit angelangt – doch bereits zuvor hatte sich gezeigt, dass sich der Dienst nicht nur für die Übermittlung von Nachrichtenlinks, sondern auch für die Mikroberichterstattung zu Notfällen und Katastrophen eignet, die einen mobilen Einsatz und schnell getakteten, hohen Nachrichtendurchsatz verlangen. Doch wie sinnvoll ist Twitter als Recherche-Werkzeug?

Twitter – und der Amoklauf von Winnenden – das ist die Geschichte eines journalistischen Lehrstücks. Die erste Meldung stammte von einer Twitterin namens „tontaube“. Sie schrieb gegen 10.30 Uhr: „Achtung: In der Realschule Winnenden gab es heute einen Amoklauf, Täter angeblich flüchtig – besser nicht in die Stadt kommen!!!!“. Damit informierte sie zwar erst einmal nur die Menschen, die ihrem Twitter-Stream folgten, doch die Nachricht wurde rasch weiter getwittert – wenige Stunden später drängten sich Journalisten aus der ganzen Bundesrepublik vor der Albertville-Realschule. Auch der erste Hinweis auf einen Terroranschlag in Mumbai wurde getwittert, ebenfalls die Notlandung des Airbus A320 auf dem Hudson River vor New York: Über den Foto-Microblogging-Dienst Twitpic veröffentlichte ein zufälliger Zuschauer per Handy das erste Foto des wassernden Flugzeugs.
Dass ein Autor oder eine Redaktion als erste von einem Anschlag oder einem Unglück per Twitter erfahren, ist unwahrscheinlich. Mit Twitter baut sich nämlich jeder sein eigenes Informationsökotop auf. Der Nachrichtenfluss ist daher jeweils individuell. Autoren können etwa spezialisierten Newsdiensten oder Experten folgen, die sich mit Themen befassen, über die sie schreiben. Daraus kann der eine oder andere Linkhinweis Anstoß für eine Geschichte geben, oder die Experten kommentieren die eigenen Beiträge. Dabei ist die Kommunikation unmittelbarer als per E-Mail, in Foren oder Kommentarbereichen.
Doch Twitter kann mehr: Bereits 2007 war in Kalifornien das eigentliche Potenzial des Microbloggingdienstes zu erkennen: Während der verheerenden Waldbrände kommunizierten Bürger und Notdienste über den Dienst miteinander, tauschten Vorort-Berichte aus, koordinierten Rettungsaktionen. Die Menschen nutzten den Dienst als eine Art Gruppen-SMS, da sie die Tweets auch auf Handys schicken konnten. Lokalzeitungen banden diese gefilterten Nachrichtenströme in einem weiteren Schritt direkt als lesergenerierte Nachrichtenticker in ihre Websites ein.

Frühe Experimentierphase

Eine größere Rolle könnten künftig die so genannten Hashtags spielen. Hashtags sind Stichwörter, denen ein Gatter (#) vorangestellt wird. So vereinbaren beispielsweise Veranstalter oder Teilnehmer eines Events im Vorfeld einen gemeinsamen Hashtag, über den dann alle Tweets zum Event gefiltert und in einem eigenen RSS-Stream dargestellt und abonniert werden können. Die Redaktion könnte ebenfalls einen gemeinsamen Hashtag vereinbaren, den alle Redakteure und Autoren zu einem bestimmten Thema während ihrer Recherche verwenden. Die so generierten Feeds könnte die Redaktion wiederum auf der eigenen Website als Mikro-Nachrichtenstrom einbinden, um ihre Leser nicht nur zeitnah auf dem Laufenden zu halten, sondern auch Präsenz zu signalisieren.
Twitter als Publikationsdienst nutzen jedoch erst einige wenige. Zeit online etwa hat bereits Live-Tweets aus dem hessischen Wahlkampf vermeldet und direkt auf ihrer Website angezeigt. Denkbar ist aber auch, dass Redaktionen ihren eigenen Microblogging-Dienst aufsetzen, um die selbst und von ihren Lesern generierten Nachrichtenströme zielgenauer filtern zu können – und um von den immer wiederkehrenden Ausfällen der Dienste unabhängig zu werden. Die entsprechende Software gibt es bereits kostenlos mit der Microblogging-Anwendung Laconica auf Open-Source-Basis.
Im Moment befinden sich alle Redaktionen noch in einer frühen Experimentierphase. Wie ungewohnt das Medium vielen Journalisten zunächst erschien, zeigte sich vor einem halben Jahr, als der SPD-Generalsekretär Hubertus Heil für seine ersten Twitter-Gehversuche Häme nach dem Motto erntete – wer interessiert sich schon für Belanglosigkeiten in 140 Zeichen? Inzwischen twittern zahlreiche Tages- und Wochenzeitungen – und alle setzen ihren Account ein, um Links auf ihre Nachrichten zu setzen. Spiegel etwa betreibt einen Account für Eilmeldungen und eine Reihe weiterer Accounts für einzelne Ressorts – und steht mit über 7.000 Followern an der Spitze der Redaktions-Twitteraccounts. Heise online betreibt zwei Accounts. Über den einen veröffentlicht der IT-Newsdienst seinen RSS-Feed mit den Überschriften aller Artikel, über den anderen nur eine tägliche Auswahl der fünf bis zehn wichtigsten Heise-Meldungen.
Redaktionen wie DerWesten, Welt und taz (unter @tazkongress) hingegen belassen es nicht nur bei Hinweisen auf ihre Beiträge, sondern kommunizieren aktiv mit ihren Lesern, die über das Redaktionsgezwitscher mitverfolgen können, wie Beiträge entstehen. Damit konnten sie bereits über Tausende Follower gewinnen. Doch wie reagieren die Redaktionen auf harsche Leserkritik? Zwei Beiträge in der taz, die sich mit der „OpenAccess“-Strategie von Wissenschaftsorganisationen kritisch, aber nicht unbedingt kenntnisreich auseinandersetzten, sorgten jüngst für einen Sturm der Entrüstung: „Die taz, Open Access, Web2.0 und Journalismus: Wie peinlich kann es werden?“ Die taz reagierte schnell und zwitscherte verzweifelt zurück: „Bitte entfollowt uns jetzt nicht wg. der #OpenAccess-Beiträge“. Mitunter kann es schwierig sein, den richtigen Ton zu treffen. Just zum Amoklauf beschloss die Focus online-Redaktion, neben dem unkommentierten Account für den Nachrichtenfeed einen interaktiven Account einzurichen. Zwei Reporter sollten vor Ort über ihre Erkenntnisse laufend per Twitter berichten – und dabei mit ihren Lesern kommunizieren. Das Vorhaben erregte schnell die Twitter- und später die Medien-Öffentlichkeit – nicht wegen erhellenden Recherchen, sondern wegen des gewählten Account-Namens. Die Redaktion löschte ihn, ohne ihn verwendet zu haben. Über FocusLive liefen schließlich die Tweets. Einer wurde gelöscht, weil er wegen seiner flapsigen Formulierung für Anstoß gesorgt hatte: „@jochenjochen hat Budget für zwei Zahnbürsten freigegeben. Focus-Online-Reporter Christina Otten und Oliver Markert bleiben in #Winnenden.“ Blogger-Journalist Stefan Niggemeier hatte daraufhin in seinem Blog geschrieben: „Ich möchte nicht, dass die Reporter auf dem Weg zum Ort des Dramas denken, dies sei ein guter Zeitpunkt, schnell noch ihre persönlichen Befindlichkeiten zu veröffentlichen.“ Chefredakteur Jochen Wegner reagierte umgehend in seinem Blog „in.focus“ und bezeichnete es als schmale Gratwanderung, wenn Journalisten „sich selbst und ihre Arbeit zum Gegenstand der Berichterstattung machen“. Die Redaktion werde daher „einen Weg finden, Twitter und andere soziale Netzwerke so zu nutzen, dass sie beidem gerecht werden – den Netzwerken selbst und den journalistischen Standards.“ Dem ist fast nichts hinzuzufügen außer dass dies nicht nur Focus, sondern alle Redaktionen betrifft.   

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