Noch nie waren die Wahlprogramme der Parteien zur Bundestagswahl so umfangreich wie 2021. Allerdings: Nur ein einziges Mal – 1994 – waren sie noch unverständlicher als diesmal. Fach- und Fremdwörter, Anglizismen uund Bandwurmsätze erschweren die Lesbarkeit. Zu diesem Ergebnis kommen Wissenschaftler der Universität Hohenheim, die den Wahlkampf mit verschiedenen Checks begleiten. In einer Studie untersuchten sie die Sprachverständlichkeit der Parteienprogramme.
Die Stuttgarter Kommunikationswissenschaftler*innen haben bereits 83 Wahlprogramme seit der Bundestagswahl 1949 auf formale Verständlichkeit und Sprache analysiert. Sie nutzen dazu die Verständlichkeits-Software „TextLab“, die von ihnen gemeinsam mit einem Ulmer Unternehmen entwickelt wurde. Das Fazit für 2021: In diesem Jahr erschweren Bandwurmsätze mit bis zu 79 Wörtern (AfD), Wortungetüme wie „Quellentelekommunikationsüberwachung“ (FDP, Linke) und Fachbegriffe wie „Cell-Broadcasting-Technologie“ (CDU/CSU), „Cybergrooming“ (Grüne) oder „Life-Chain“ (SPD) für viele Laien die Verständlichkeit. Das formal verständlichste Programm legt demnach Die Linke vor, das formal unverständlichste stammt von den Grünen. Die AfD verwendet die populistischste Sprache.
„Damit die Wählerinnen und Wähler eine begründete Wahlentscheidung treffen können, sollten Parteien ihre Positionen klar und verständlich darstellen. Die Wahlprogramme sind dabei ein Mittel, um die eigenen Positionen darzulegen“, sagt Prof. Dr. Frank Brettschneider von der Universität Hohenheim, der das Auswertungsteam leitet. Die Analyse ist Teil eines Langzeitprojektes, das Vergleiche seit 1949 gestattet.
Ein Ergebnis: Noch nie waren die Wahlprogramme so umfangreich wie in diesem Jahr: durchschnittlich 43.541 Wörter pro Programm. Bei der ersten Bundestagswahl 1949 waren es noch im Schnitt 5.498 Wörter. Allerdings gäbe es aktuell bei der Länge der Wahlprogramme große Unterschiede: Traditionell hatten die Grünen das längste Wahlprogramm. In diesem Jahr wurden sie allerdings von der Links-Partei abgelöst, die mit 68.331 Wörtern das Programm der Grünen um gut tausend Wörter überbietet. Die kürzesten Programme haben in diesem Jahr die AfD und die SPD vorgelegt: jeweils knapp 23.500 Wörter.
Linke am verständlichsten, Grüne Schlusslicht
„Oft lässt die Verständlichkeit der Wahlprogramme zu wünschen übrig“, sagt Prof. Brettschneider, nur 1994 seien die Programme im Schnitt noch unverständlicher gewesen. Die Analyse-Software zählt unter anderem überlange Sätze, Fachbegriffe und zusammengesetzte Wörter. Anhand solcher Merkmale bildet sie den „Hohenheimer Verständlichkeitsindex“. Er reicht von 0 (schwer verständlich) bis 20 (leicht verständlich).
Das formal verständlichste Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2021 liefere Die Linke mit 8,4 Punkten auf dem Verständlichkeitsindex. Den letzten Platz belegen die Grünen mit 5,6 Punkten. Es handelt sich um das formal unverständlichste Wahlprogramm der Partei seit 1983. Auch die auf dem vorletzten Platz liegende AfD liefert ihr bisher formal schlechtverständlichstes Wahlprogramm seit 2013. Im Schnitt liegen die Wahlprogramme 2021 bei 7,2 Punkten. 2017 wurden noch 9,2 Punkte erreicht. Das sei enttäuschend, so Brettschneider. Mit ihren teilweise schwer verdaulichen Wahlprogrammen schlössen die Parteien „einen erheblichen Teil der Wählerinnen und Wähler aus und verpassen damit eine kommunikative Chance.“
Fremdwörter, Anglizismen und Satz-Monster
Die häufigsten Verstöße gegen Verständlichkeits-Regeln sehen die Forscher*innen in Fremd- und Fachwörtern, zusammengesetzten Wörtern und Nominalisierungen, Anglizismen sowie langen Sätzen und Schachtelsätzen. Verstehen Wähler*innen, wenn die Grünen von einer „Fact-Finding-Mission“ reden? Oder die CDU/CSU von „Agri-FoodTech-Wagniskapitalfonds“, die AfD von „supranationale Remigrationsagenda“, Die Linke von „Antiziganismus“, die SPD von „Edge-Computing“ oder die FDP vom „Carbon Leakage-Schutz?, fragen die Hohenheimer. Außerdem hätten sie in allen Wahlprogrammen Satz-Ungetüme mit teilweise mehr als 40 Wörtern gefunden. Am längsten sei ein Satz aus dem AfD-Programm: Er besteht aus 79 Wörtern.
Die formale Verständlichkeit sei natürlich nicht das einzige Kriterium, von dem die Güte eines Wahlprogramms abhängt, betonen die Analyst*innen. Deutlich wichtiger sei der Inhalt. Doch stelle eben formale Unverständlichkeit eine Hürde für das Verständnis der Inhalte dar.
Thematische Schwerpunkte und Populismus
Ein weiteres Ergebnis der Begriffsanalysen: Typische Sprachmuster offenbaren thematische Schwerpunkte: „Die Sozialpolitik gehört sprachlich zu den zentralen Themen der Bundestagswahl 2021. Auch Außenpolitik und Umweltpolitik sind häufig unter den Top-5-Themen zu finden“, so Claudia Thoms vom Forschungsteam. Im direkten Vergleich der Themen-Anteile an den Wahlprogrammen zeigten sich auch die typischen Schwerpunkte der Parteien: Die SPD beschäftige sich ausführlich mit Arbeitsmarktpolitik. Die FDP habe im Vergleich größere Anteile finanz- und haushaltspolitischer sowie wirtschaftspolitischer Aussagen. Wirtschaftspolitik werde allerdings auch bei den Grünen vergleichsweise umfangreich behandelt, im Verein mit Umweltpolitik. Der hohe sozialpolitische Anteil bei der AfD sei u. a. auf die Beschäftigung mit familienpolitischen Themen zurückzuführen. Die starke Beschäftigung der CDU/CSU mit Innerer Sicherheit und Rechtspolitik zeige sich ebenfalls in Begriffen, wie etwa auch integrationspolitischen Inhalte der Linken.
Außerdem haben die Hohenheimer Forscher*innen die Verwendung populistischen Vokabulars untersucht. Danach weisen die aktuellen Programme im Verhältnis zu früheren Wahlen einen verhältnismäßig geringen Grad an sprachlichem Populismus auf – den drittniedrigsten seit 1949. Sprachlich am populistischsten schreibt 2021 die AfD. Mit ihren bisher drei Bundestags-wahlprogrammen belegt sie auch insgesamt den zweiten Platz im langjährigen Parteienvergleich. Den ersten Platz belegen hier die Grünen, was vor allem auf verhältnismäßig hohe Populismuswerte in den Anfangszeiten der Partei zurückzuführen sei. Das aktuelle Wahlprogramm der Grünen weise den bisher niedrigsten Populismuswert der Partei auf. Die am wenigsten populistischen Wahlprogramme schrieben im Schnitt die Unions-Parteien.
Die komplette Studie steht hier zum Download bereit.