Die Vielfalt einer Gesellschaft neben dem Mainstream im Film
„Diversity“ ist ein Schlagwort, das vor allem mit Blick auf Geschlecht und sexuelle Orientierung zum Standard im Kanon der „Political Correctness“ gehört. Aber es ist eigentlich noch viel mehr: der Blick auf ethnische und soziale Herkunft, auf Menschen mit Handicaps und auf eben alle Gruppen, die die Vielfalt einer Gesellschaft neben dem Mainstream ausmachen. Dieser Fokus hat sich in der Pandemie bei TV-Sendern und Streamingportalen noch einmal verstärkt.
Inzwischen haben sich pflichtschuldigst alle Medienunternehmen das Label „Diversity“ verpasst. Es sei zwar ein „schrecklich“ einfacher Begriff, formuliert es Sarah Muller von der BBC, aber eben genauso einer der wichtigsten. Doch steckt auch immer drin, was draufsteht? Gut, es gibt den libanesischen Chefarzt „Dr. Ballouz“ in der Uckermark, den Protagonisten mit Down-Syndrom wie in der kanadischen Serie „White Night“ und einige mehr. Aber wahrscheinlich geht es noch besser. Der Bedarf ist jedenfalls groß. Das diagnostiziert Lucy Smith: „Inklusive Inhalte wurden in der Corona-Zeit deutlich mehr produziert und nachgefragt.“ Als Chefin der weltgrößten Fernsehmesse MIPCOM hat sie den globalen Überblick. Während des alljährlichen Programmmarkts in Cannes, der im Oktober stattfand, gab es mehr Angebote für das Genre als zuvor. Und Auszeichnungen: Der International Kids Emmy Award beispielsweise ging an die australische Produktion „First Day“. Die Geschichte um ein Highschool Trans Mädchen wurde anlässlich der Messe in Südfrankreich als beste Miniserie ausgezeichnet. Und auch die vierten MIPCOM Diversify TV Excellence Awards gaben einen Querschnitt über das, was in der Fernsehwelt aktuell passiert – angefangen bei einer Doku über Gehörlose in Zeiten des Lockdowns über die Serie „It’s a sin“, die das Leben junger Schwuler im London der 80er proträtiert, bis hin zur Komödie „Dreaming Whilst Black“, wo es um die Erlebnisse eines jamaikanischen Filmemachers geht.
Bereits kurz zuvor hatte das Radio Programm „Toggo“ von Super RTL für seine Anti-Rassismus-Woche „Zusammen sind wir bunt“ den deutschen Radiopreis 2021 erhalten. Die kürzlich gesendete Reihe über mentale Gesundheit von Kindern habe, so Senderchef Thorsten Braun in Cannes, ebenfalls eine „Riesenresonanz“ gehabt: „Es ist ganz klar, dass wir solche Inhalte, auch wenn wir ein kommerzieller Sender sind, viel stärker in unser Fernsehprogramm bringen werden. Gesellschaftliche Verantwortung wollen und müssen wir noch deutlicher wahrnehmen.“
Bemerkenswerte Kluft
Ein aktueller Bericht von Common Sense Media in den Vereinigten Staaten stellt fest, dass es eine bemerkenswerte Kluft zwischen der Vielfalt gibt, die Eltern und Kinder in den Filmen und Fernsehprogrammen abgebildet sehen möchten, und dem, was sie dann tatsächlich zu sehen bekommen.
Das unabhängige US-Forschungsnetzwerk, das die Bedürfnisse von Familien im Blick hat, belegte mit seiner Umfrage, dass sich knapp 80 Prozent der Eltern wünschen, dass ihr Nachwuchs in den Medien mehr über Kulturen, Religionen und Lebensstile erfährt, die sich von ihren eigenen Lebensumständen unterscheiden. Konträr dazu zeigte die Datenlage aber auch eklatante Diversitätsprobleme auf: Farbige Menschen in Film- und Fernsehrollen seien über alle Medienplattformen weiterhin unterrepräsentiert und falsch dargestellt. So würden beispielsweise farbige Charaktere in Serien für Kinder im Alter von zwei bis 13 Jahren, eher als gewalttätig dargestellt, während Frauen aller ethnischen Gruppen in Erwachsenenprogrammen häufig in sexualisierten Rollen auftauchten.
Woran es liegt, dass das Thema in Streaming sowie TV seit letztem Jahr noch einmal Fahrt aufgenommen hat, ist nicht eindeutig zu klären, aber die Pandemie hat so manche marginale Gesellschaftsgruppe wesentlich stärker getroffen als den Rest der Bevölkerung. Anlässlich der MIPCOM haben noch einmal fast alle Programmverantwortlichen Großbritanniens klar gemacht, dass bei ihnen Inklusion und Diversity ganz oben auf der Agenda stehen.
Gezeigt hatte das schon im September die Ankündigung von BBC und Netflix „in einer bahnbrechenden Partnerschaft“ neue Dramen mit behinderten Kreativen vor und hinter der Kamera zu entwickeln und zu finanzieren. Gehörlose, behinderte und neurodivergente Schöpfer seien einige der am wenigsten vertretenen Gruppen im Fernsehen in Großbritannien. „Diese Tatsache wollen wir ändern“, kündigte UK Netflix Vize-Chefin Anne Mensah an. Und Piers Wenger von der BBC ergänzte: „Wir erkennen die Notwendigkeit von Veränderungen an und hoffen, dass wir durch die Zusammenarbeit ein Finanzierungsmodell geschaffen haben, das dazu beiträgt, die Wettbewerbsbedingungen für Kreative aus diesen Gruppen zu verbessern.“
Plattform mit Respekt
Dass der angloamerikanische Markt in diesem Bereich schon länger innovativ vorangeht, belegt auch die Vox-Reihe „Besonders verliebt“, die im Oktober gestartet und eine Adaption der neun Jahre alten britischen Reality-TV-Serie „The Undateables“ ist. Die Datingshow begleitet Singles, die es eben nicht so einfach haben, das richtige Date zu finden: Sie alle haben ein Handycap. Im Zuge des Formats zeigen die Protagonist*innen „auch ihre Welt und teilen mit uns ihre Erfahrungen, wie es ist, mit einer körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung zu lieben und zu leben“, artikuliert es VOX-Chefredakteur und Unterhaltungschef Marcel Amruschkewitz. Die Quoten seien bisher „leider“ etwas unter den Erwartungen geblieben. Ob es mit „Besonders verliebt“ weitergehen wird, ist noch nicht entschieden. Aber Zuschauerreaktionen wie „Ich finde es richtig und wichtig, dass ihr diesen Menschen eine Plattform auf Augenhöhe und mit Respekt gebt“ oder „So eine wunderschöne Sendung. Kriege ich Muskelkater im Gesicht vom vielen Grinsen. Echt herzerwärmend“ bestärken die Senderverantwortlichen in der Überzeugung, das richtige zu tun.
Für Amruschkewitz ist vollkommen klar, dass der offensichtliche gesellschaftliche Wandel und die wachsende Bedeutung des Themas mit entsprechenden Programmen unterstützt werden muss. Dass das zu einer schmalen Gratwanderung zwischen Anspruch, Trash und Klischee werden kann, zeigt die Diskussion zum Start des britischen Originals. Denn es hagelte Kritik: Als „anstößig“ und „ausbeutend“ schätzten etwa Ärzte die Sendung ein. Eine Akteurin fand diese Sicht beleidigend, da ihr das Urteilsvermögen abgesprochen würde, selbst zu entscheiden, was gut für sie ist: „Nur weil ich entstellt bin, bin ich nicht dumm.“ Genau das ist wohl der Punkt: Über Betroffene sollte in den Medien weniger gesprochen werden, sondern sie sollten selbst mehr zu Wort kommen. Und das geht am besten übers Storytelling, wie Riz Ahmed anlässlich der Diversify Excellence Awards in seiner Dankesrede betonte: „Es ist das wichtigste Mittel, um uns miteinander zu verbinden.“ Der Schauspieler und Aktivist wurde an der Cote D‘Azur für sein jahrelanges Engagement geehrt.