Filme über den Krieg sind immer auch Kriegsfilme, selbst wenn an ihrer ablehnenden Haltung kein Zweifel bestehen kann. Das gleiche Phänomen gilt für Filme über Rechtsextremismus. Deshalb ist „Kratzer im Lack“ eine Gratwanderung: Der Dokumentarfilm beschreibt, wie ein rechter Verein Gewerkschaftsarbeit bei Daimler betreibt. „Kratzer im Lack“ ist im Rahmen der SWR-Reihe „Junger Dokumentarfilm“ ausgestrahlt worden.
In einigen deutschen Betriebsräten sitzen seit einiger Zeit Vertreter einer Gruppierung, die sich Zentrum nennt (früher Zentrum Automobil); auch bei Daimler. Der Vorsitzende dieser Gruppe, Oliver Hilburger, kommt in dem Film ausführlich zu Wort. Das wird vielen Mitgliedern der IG Metall nicht gefallen, zumal der Mann ihnen nicht den Gefallen tut, dem Klischee des tumben Rechtsradikalen zu entsprechen. Was er von sich gibt, klingt im Gegenteil plausibel und dürfte von vielen Beschäftigten mit Kopfnicken quittiert werden. Zu allem Überfluss wirkt Hilburger nicht mal automatisch unsympathisch; zum Feindbild taugt er jedenfalls nicht.
Der Film ist in Zusammenarbeit mit der Filmakademie Baden-Württemberg und der protestantischen Produktionsfirma Eikon sowie mit Unterstützung der regionalen Filmförderung MfG entstanden. Alle drei stehen nicht im Verdacht, rechtes Gedankengut verbreiten zu wollen, vom Sender ganz zu schweigen. Trotzdem gibt es offenbar Gewerkschaftsmitglieder, die erhebliche Vorbehalte gegen Anna Stradingers knapp sechzig Minuten lange Dokumentation haben. Das einzige, was sie der Filmemacherin vorhalten könnten, wäre jedoch der Verzicht auf eine mit erhobenem Zeigefinger vermittelte Botschaft. Dabei liegt genau darin die Qualität ihrer Arbeit: Sie präsentiert die Fakten, überlässt es aber einem mündigen Publikum, daraus die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen.
Natürlich ist es aus linker Sicht eine Zumutung und nur schwer auszuhalten, wenn Rechtsextremisten ihre Parolen von sich geben dürfen, doch die Aussagen bleiben nicht unwidersprochen: Michael Clauss und Anna Große-Schulte, engagierte Daimler-Betriebsratsmitglieder aus den Reihen der IG Metall, geben umgehend Kontra. Für weitere Richtigstellungen sorgt Klaus Dörre, ein linker Soziologieprofessor aus Jena, dessen Aussagen von rechten Gewerkschaftern mutwillig missdeutet werden.
Der entscheidende Aspekt des Films ist jedoch ein anderer: Ähnlich wie bei der sogenannten Alternative für Deutschland sind nicht alle Wählerinnen und Wähler des Zentrum-Vereins zwangsläufig von rechtsradikalem Gedankengut beseelt. Vielen ist möglicherweise nicht klar, wem sie da ihre Stimme geben, weil sich die Wölfe gern in einen Schafpelz hüllen. Mit einer simplen Grafik offenbart Stradinger das wahre Gesicht: Sämtliche Organisationen, zu denen das Zentrum intensive Kontakte pflegt, sind ins Visier des Verfassungsschutzes geraten.
Wer immer noch nicht kapiert hat, wes Geistes Kinder diese Leute sind, den konfrontiert der Film im einzigen plakativen Moment mit dem Emblem der von den Nationalsozialisten als Gegenmodell zu den Gewerkschaften eingesetzten Betriebszellenorganisation NSBO, während auf der Tonspur trampelnde Stiefel und klirrende Scheiben zu hören sind. Aus der Erfahrung ihrer Zerschlagung im Jahr 1933 resultiert die antifaschistische Haltung der Gewerkschaften. Das Begriffspaar „rechte Gewerkschaft“ ist demnach im Grunde ein Widerspruch in sich. Trotzdem wäre es falsch, wie Dörre mahnt, diese Tendenzen zu ignorieren. Die Autorin sieht das anscheinend ähnlich, denn mit ihrem Fazit bezieht Stradinger dann doch noch Stellung: Eine gespaltene Belegschaft schwächt den Arbeitskampf.
„Kratzer im Lack“ ist auf YouTube abrufbar.