„Das Arbeitsklima ist extrem hart“

In der Nahaufnahme für das Jahr 2025 beschäftigt sich Reporter ohne Grenzen (RSF) unter anderem mit der deutschen Berichterstattung zum Gaza-Krieg nach dem Überfall der Hamas auf Israel. Von der Organisation befragte Journalist*innen sprechen über massiven Druck, Selbstzensur und erodierende journalistische Standards. Ein Interview mit Katharina Weiß, Referentin bei Reporter ohne Grenzen Deutschland.

Was ist anders bei der aktuellen Berichterstattung zum Nahostkonflikt?

Wir haben mehr als 60 persönliche Interviews mit Journalist*innen in Deutschland geführt. Sie berichten übereinstimmend, dass der Gaza-Krieg das schwierigste Thema ist, zu dem sie je gearbeitet haben. Das Arbeitsklima ist extrem hart.

Reden wir zuerst über Druck von außen. Wie sieht es mit physischer Bedrohung und Gewalt auf Demonstrationen aus?

Gewalt und Gewaltandrohung auf Demos im Nahost-Kontext erfahren besonders häufig Medienschaffende in Berlin, deren Redaktion eine proisraelische Linie vorgeworfen wird. 40 Prozent aller körperlichen Angriffe, die wir prüfen konnten, richteten sich gegen den BILD-Reporter Iman Sefati und einen Fotojournalisten. Die beiden arbeiten oft nebeneinander.

Schwerpunktmäßig trifft Gewalt vor Ort also eine Seite?

Tatsächlich gibt es nur wenige Berichte über Übergriffe proisraelischer Demonstrierender. Allerdings kommt es in dem Bereich auch seltener zu potenziellen Reibungspunkten auf der Straße. Pro-israelische Veranstaltungen finden sehr viel öfter in geschlossenen Räumen von Institutionen statt. Und was man nicht vergessen darf: Bundesweit berichten Journalist*innen seit Jahren, dass Versammlungen aus dem rechtsextremen Milieu am gefährlichsten für sie sind.

Sie berichten auch über Polizeigewalt gegenüber Journalist*innen. 

Reporter*innen berichten über ungewöhnlich brachiale Polizeigewalt im Umfeld Palästina-solidarischer Proteste, die sie selbst erlebt oder beobachtet haben. Die insgesamt schwierige Situationen auf Demos ist ein Problem. Wenn über Druck von außen berichtet wird, geht es aber vor allem um Hate Speech und öffentliche Anfeindungen.

Welche Seite trifft Hate Speech und Hetze vor allem?

Das lässt sich nicht klar sagen. Von Nicholas Potter, der für die taz oft über Antisemitismus berichtet, kursierte in Berlin ein Plakat mit der Überschrift „Wanted“ und offener Gewaltdrohung. Die Fernsehreporterin Sophia Maier wurde mit Begriffen wie „Hamas-Fotze“ beschimpft. Kolleg*innen erhalten Drohungen in Direktnachrichten. Teilweise werden Privatadressen veröffentlicht. Das alles sind alarmierende Grenzübertritte. Es muss möglich sein, ohne Angst vor aggressiven Shitstorms und justiziablen Beschimpfungen und ohne die Androhung von körperlicher Gewalt oder gar Mord zu berichten.

Angst gibt es auch vor Bloßstellung mit dem Vorwurf des Israel-bezogenen Antisemitismus. Sie nennen als konkrete Akteure die BILD sowie die Portale Mena-Watch und ÖRR Antisemitismus Watch.

Diese drei Namen fielen in den Gesprächen besonders oft. Interessanterweise wird gerade Berichterstattung, die sich um Ausgewogenheit bemüht, manchmal von allen Seiten angegriffen. Auch der Druck von Social Media kommt oft von allen Seiten. Die Israel-solidarische Bubble spricht von Antisemitismus. Die Palästina-solidarische Bubble ist der Meinung, dass Genozid verharmlost werde.

Ihre Interviewpartner*innen berichten von Interventionen der israelischen Botschaft und der Deutsch-Israelischen Gesellschaft.

Das hat uns selbst überrascht. Bei Kritik an der israelischen Kriegsführung greifen diese Organisationen anscheinend oft gleich zum ganz großen Machthebel und beschweren sich bei der Chefredaktion oder Verlagsleitung. Das kann auf die betroffenen Kolleg*innen einschüchternd wirken.

Das alles ist Druck von außen. Es scheint auch ein großes Problem mit innerer Pressefreiheit zu geben. Wie sieht es da aus?

Viele Berichterstattende klagen darüber, dass klassische ethische Standards über Bord geworfen würden. Redaktionen streichen Begriffe wie Genozid oder Völkermord aus Interviews oder Zitaten, auch wenn anerkannte Genozidforschende sie verwenden. Dann gibt es Doppelstandards im Umgang mit Quellen vor Ort: Israelische Quellen dürfen live interviewt werden, palästinensische Quellen hingegen werden nur voraufgezeichnet gesendet.

Mit welcher Begründung?

Redaktionen rechtfertigen das oft mit der Angst, es könnten antisemitische Sätze fallen, obwohl die Befragten aus Sicht der Journalist*innen genauso wenig Gefahr laufen, Hassrede zu verbreiten wie die israelischen Quellen. Und es gibt Klagen, dass die Erkenntnisse ansonsten anerkannter Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder Human Rights Watch mit spitzen Fingern angefasst werden müssen. Die von uns Befragten beobachten, dass Empathie anders verteilt würde. Redaktionen räumten Berichterstattung über das Leid der Zivilbevölkerung in Gaza deutlich weniger Platz ein als Geschichten über das Leid israelischer Geiseln.

Wie gehen die einzelnen Journalist*innen mit der Situation um?

Oft fiel in unseren Gesprächen der Begriff Selbstzensur. Gerade Freie, die darauf angewiesen sind, dass sie wieder beauftragt werden, sind zurückhaltend, das Thema wieder anzubieten, da in der Vergangenheit jede Berichterstattung zu Extrastress und Streit mit der Redaktion geführt hat. Vor allem migrantisierte Kolleg*innen berichten auch von rassistischen Vorfällen und Mobbing in der Redaktion. Nach dem Motto: Weil du arabische Quellen lesen kannst, sympathisierst du doch bestimmt mit der Hamas.

Inwiefern gibt es in Redaktionen dafür ein Problembewusstsein?

Viele schwierige Situationen, die wir beschrieben haben, spielten sich in der ersten Hälfte von 2024 ab. Wir hören immer wieder, dass sich in den letzten Wochen vieles zum Positiven verändert hat. Palästina-solidarischen Stimmen wird mehr zugehört, Begriffssperren werden weniger, es kommt zu interner Aufarbeitung in Redaktionen. Allerdings ist weiterhin viel zu tun.

Was wünschen sich die befragten Journalist*innen?

Sie wünschen sich vor allem, dass von außen weniger auf sie draufgehauen wird. Die Kolleg*innen wünschen sich mehr Solidarisierung, ausgewogenere Diskurse und dass Fehler offen diskutiert werden. Und sie hoffen, dass sich das Phänomen der angst- und unsicherheitsgetriebenen Einschränkung von Pressefreiheit nicht auch auf andere Bereiche ausbreitet. Wer weiß, welche Konflikte uns in Zukunft erwarten.

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