Das bekannte Archiv–Storytelling in Dokumentationen befindet sich im Wandel. Und das ist auch notwendig: Weg von stereotypen Erzählmustern, hin zu ganzheitlichen Betrachtungen. Bislang unbekanntes Archivmaterial spielt darin eine wesentliche Rolle. Beispiele dafür gab es auf der Sunny Side of the Doc im französischen La Rochelle zu sehen, wo die internationale Doku-Branche zusammenkam.
„Es gibt die Bewegung hin zu einer Entkolonialisierung weg von einer westlich zentrierten Sicht, was die Nutzung von Archivmaterial angeht. Beispielsweise bei Dokumentationen über Afrika oder Asien, in denen die Perspektive der Menschen, die dort lebten, besser geschildert werden soll.“ So beschrieb Aurélie Réman auf einem der wichtigsten internationalen Treffs der Doku-Branche eine Entwicklung, die auch für die über 2.000 Senderverantwortlichen und Produzenten aus mehr als 60 Ländern auf der Sunny Side of the Doc eine immer größere Rolle spielt.
Réman, Geschäftsführerin der Veranstaltung an der französischen Atlantikküste, sah darin zugleich eine Chance für neue Erzählformen in diesem Bereich: „Das grundsätzliche Ziel ist, entsprechendes Archivmaterial zu sammeln und der gesamten internationalen Gemeinschaft zur Verfügung zu stellen. Aber es geht auch darum, in Zusammenarbeit mit lokalen Crews diese neuen Geschichten auf die Bildschirme zu bringen.“
Unbekanntes Material zu Nelson Mandela
Wie das praktisch umgesetzt wird, dafür gab die renommierte amerikanische Dokumentarfilmerin Dawn Porter von Trilogy Films in La Rochelle ein Beispiel: Zurzeit arbeitet sie an einem Porträt über Winnie und Nelson Mandela. „Ein Großteil des Materials aus den frühen 70er und 80er Jahren, das wir kennen, entstand unter dem Apartheid- Regime, ist also politisch voreingenommen, um die rassistische Diskriminierung zu unterstützen“, berichtete die New Yorkerin.
Sie und ihr Team haben dann die Archive von Deutschen, Franzosen und Skandinaviern gesichtet, die damals ebenfalls die Situation in Südafrika dokumentiert haben, teilweise Material aus dem Land herausschmuggelten, das die wahre Situation dort wiedergab. „Es ist wie ein Puzzle, eine Art Forschungsgeschichte, um die Leute zu finden, die dort waren. Aber wir haben einige neue und wirklich schöne Inhalte gefunden“, freute sich Porter, „und wenn ich also über Entkolonialisierung nachdenke, dann denke ich daran, eine ganzheitliche Geschichte zu erzählen, die aus der Perspektive der Menschen ohne Macht erzählt werden sollte.“
Vietnam-Krieg neu erzählt
Ganzheitliche Geschichten zu erzählen, erfordert aber vor allem eine Zugänglichkeit aller relevanten Archive. „Westlichen Perspektiven sind diejenigen, die am besten erschlossen und deswegen am niedrigschwelligsten zugänglich sind“, hat der deutsche Dokumentarfilmer Gunnar Dedio von Looks Film festgestellt. Bei seinem aktuellen Projekt „Vietnam. Geburt einer Nation“ ist Dedio aber einen ganz anderen Weg gegangen. In einer mehrjährigen Recherche konnten er und seine Kolleginnen sowie Kollegen über 450 vietnamesische Filme sichten – darunter Aufnahmen, die noch nie außerhalb von Vietnam gezeigt wurden.
Dadurch werde die Geschichte des vom Krieg gezeichneten südostasiatischen Landes von einer neuen Warte aus erzählt: „Aus meiner Sicht ist es die erste Serie überhaupt aus vietnamesischer Perspektive.“
Ähnlich geht das Team von Looks Film bei ihrem aktuellen Projekt über den jugoslawischen Widerstandskämpfer und Diktator Tito vor. „In den meisten Fällen gibt es zu demselben Ereignis gleichzeitig unterschiedliche Blickwinkel, und diese gilt es zu finden“, so Dedio. So könne zu Tito eine jugoslawische, eine sowjetische, eine chinesische oder auch eine italienische Perspektive gefunden werden. Diese unterschiedlichen Aspekte zu finden und zu montieren könnten dazu beitragen, sich der „Wahrheit“ zu nähern.
Dass sich die Branche noch mehr anstrengen muss, um ganzheitliche Ansätze beim Einsatz von dokumentarischem Material zu verwirklichen, davon ist Porter überzeugt: „Wir müssen uns anstrengen, einen umfassenderen Zugang zu anderen Quellen zu erhalten, denn die leicht zugänglichen Quellen sind immer die der Mächtigen.“
Archivmaterial prägt gesellschaftliche Narrative
Wie sehr diese leicht zugänglichen Quellen dann auch zum Verhängnis werden können, dafür steht unter anderem „Hitler – eine Karriere“: Als der Historiker Joachim Fest in den 70er Jahren seine Hitler-Biografie als Dokumentation fürs Kino verfilmte, hätte der spätere Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung beinahe ein Revival des Kults um den Diktator aus Braunau verursacht. In weiten Teilen unkritisch übernahm der spätere Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung große Teile des von den Nazis inszenierten Propaganda- sowie Wochenschaumaterials für seinen Film – ohne diese Aufnahmen einzuordnen oder andere, kritischere audiovisuelle Quellen zu nutzen, etwa von ausländischen Berichterstattern. Die schrecklich-mitreißenden Effekte der Bilder lösten auch Jahrzehnte nach deren Entstehen beim Publikum teilweise Faszination für den Verursacher des Holocaust aus.
Der Film bleibt jedenfalls bis heute jedenfalls auch ein Beispiel dafür, welch immense Bedeutung die Bewegtbildarchive der Nachrichtenagenturen und Filmarchive nicht nur für Dokumentationen einnehmen. Denn sie prägen die historischen Narrative, sind unverzichtbar für historische, aber auch aktuelle investigative Dokumentationen.