Filmtipp: „Erfundene Wahrheit“

Den "größten Betrugsskandal im Journalismus seit den Hitlertagebüchern" rollt Daniel Sager mit seinem Dokumentarfilm zur Claas Relotius auf. Foto: picture alliance/westend61 / Montage M

Daniel Sagers Dokumentarfilm „Erfundene Wahrheit“ bringt den Fälscher-Skandal um den „Spiegel“-Reporter Claas Relotius in die Streamingdienste. „…Er trägt eine schusssichere Weste, automatisches Gewehr, Nachtsichtgerät, irgendwann drückt er ab…“ – Claas Relotius, Deutschlands bekanntester Reporter, wusste, was in einer schönen Reportage nicht nur über Amerikaner nahe der mexikanischen Grenze stehen muss. 

Ende 2018 ging es nicht mehr weiter mit dem Chefmärchenerzähler des „Spiegel“: Sein Kollege Juan Moreno deckte die kreative Textführung seines mit Preisen überhäuften Kollegen auf; schon zuvor hatten sich Menschen beschwert, die sich in den Texten mit falschen Zitaten, anderen Namen oder beinahe komplett erfunden wiederfanden. Fake-News-Produktion von ganz oben und eine „Naturkatastrophe“ (Moreno) für jede seriöse Berichterstattung. Der „Spiegel“ sah sich gezwungen, eine Aufklärungskommission einzusetzen.

Der Schaden für den deutschen Journalismus, nach vermeintlichem Reinheitsgebot aufgebaut, war immens, ist man doch – nach dem Motto „Sagen, was ist“ – die wichtigste Zeitschrift Europas, auch wenn das die Anzeigenkunden nicht immer ganz so sehen. 

Es soll ja immer die Wahrheit in der Zeitung stehen, nicht wahr? Relotius habe alle „um den Finger gewickelt“, sagt Chefredakteur Steffen Klusmann in Daniel Sagers nun anlaufender, tja, Reportage „Erfundene Wahrheit“ über diesen journalistischen Fail allererster Güte. 

Weggefährten und Beteiligte des Skandals wie Moreno kommen darin ausführlich zu Wort, mancher deutsche Großredakteur, aber auch Michele Anderson aus Fergus Falls – jener Ort im US-Staat Minnesota, den Relotius zum Nazi-Nest emporschrieb. 

Darüber hinaus philosophieren Experten wie Stefan Niggemeier, selbst einst beim „Spiegel“, über Medien und insbesondere über die Arbeitsbedingungen beim Nachrichtenmagazin, wo eigentlich „jedes Wort überprüft“ wird von einer Dokumentarabteilung. 

Eigentlich. Warum bei Relotius alle Sicherheitsmechanismen einen AZV-Tag einlegten, kann der Film indes nicht wirklich klären. Zu viele, die an entscheidenden Stellen saßen – ihre Namen werden dezidiert aufgelistet –, wollten sich nicht zum Fall äußern. Dennoch gibt es einiges über das Gebaren im 5-Sterne-Journalismus zu hören: „Wie viele Preise kriegen wir?“, sei die alles entscheidende Frage, berichtet etwa der ehemalige „Spiegel“- und jetzige „Süddeutsche“-Mitarbeiter Wolfgang Krach vom kreativen Zeitungsmachen.

Insgesamt rollt Sager den „größten Betrugsskandal im Journalismus seit den Hitlertagebüchern“, wie die dju in ver.di seinerzeit twitterte, routiniert und gut geschnitten auf. Ob daran Interesse besteht? Der Journalismus, der deutsche, produziert indes – RBB-Verwerfungen; die Zahlung üppiger Honorare der Regierung an prominente Journalisten – durchaus neue Skandale.

Aber vielleicht war Relotius nur seiner Zeit voraus – „Sagen, was ist“ dürfte demnächst eine schwierige Textkategorie werden, wenn, wie es Branchenvertreter bereits ankündigen, künstliche Intelligenz bei der Artikelproduktion eingesetzt wird. Wahrheit selbst könnte zur Variable werden, der Bedrohungen sind viele. Regisseur Sager hält dagegen: „Für einen gesellschaftlichen Diskurs und um freie Entscheidungen treffen zu können, brauchen wir unverfälschte Informationen.“

Und Relotius? Hat dem Journalismus den Rücken gekehrt. Wie so viele seiner Kollegen soll er in die PR-Branche gewechselt sein.

„Erfundene Wahrheit – Die Relotius Affäre“. D 2023. Regie: Daniel Sager. Ab 24. März auf Sky Q und WOW

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