Diese Geschichte hätte sich ein Drehbuchautor kaum besser ausdenken können: Im Frühjahr 1945 kreuzen sich die Lebenswege zweier Heranwachsender in einem Konzentrationslager. In der Dokumentation erinnern sich die beiden mittlerweile hochbetagten Herren an ihre Jugend: Der eine war politischer Häftling, der andere der Sohn des KZ-Leiters. 75 Jahre später treffen sie sich wieder.
Dušan Stefancic (Jahrgang 1927) gehörte zum slowenischen Widerstand, erlebte eine regelrechte KZ-Odyssee und landete schließlich in St. Georgen an der Gusen (Oberösterreich). Dort hatte der Vater von Walter Chmielewski (1929) wenige Jahre zuvor eine Außenstelle des Lagers Mauthausen errichten lassen. In die Geschichte des Nationalsozialismus ist Karl Chmielewski als „Der Teufel von Gusen“ eingegangen, weil er sich eine besonders grausame Mordmethode ausgedacht hatte. Hier der Junge, der in seiner Heimat Flugblätter verteilt und aufständische Parolen an die Fassaden geschrieben hat, dort der Sohn des KZ-Leiters, der seine Jugendjahre mit einem liebevollen Vater als glücklich bezeichnet: Gegensätzlicher könnten zwei Biografien kaum sein.
Es ist ein beliebtes Stilmittel von Dokumentationen, zwei Lebensläufe parallel zu erzählen, um ein Thema aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten zu können. Oft laufen diese Handlungsstränge allerdings bloß nebeneinander her. Das ist in diesem Film von Julia und Robert Grantner zwar zunächst nicht anders, aber der Stacheldraht, der sie getrennt hat, stellt natürlich auch so etwas wie eine Verknüpfung dar. Außerdem verrät der Kommentar gleich zu Beginn, dass sich die beiden alten Herren am Ende begegnen werden. Dieses Treffen in einem Café im slowenischen Ljubljana fällt jedoch viel zu kurz aus und ist allenfalls eine Art Epilog. Der Film begleitet Walter über weite Strecken zu den Stätten des früheren Arbeitslagers, und natürlich wäre es ungleich spannender gewesen, wenn die beiden Männer ihre Erinnerungen an Ort und Stelle ausgetauscht hätten, aber vielleicht wollte sich Dušan die Reisestrapazen nicht zumuten.
Die besondere Faszination des Films liegt jedoch nicht nur im biografischen Kontrast. Walter schämt sich bis heute für die Untaten, die sein Vater begangen hat, doch er war auch ein Kind seiner Zeit: Karl Chmielewski hat seinen Sohn auf eine „Napola“ geschickt, eine Nazi-Eliteschule. Gehirnwäsche und Bevormundung, erzählt Walter, seien ihm ein Gräuel gewesen, aber die Uniform habe er mit Stolz getragen, und wenn er von einer zufälligen Begegnung mit Adolf Hitler berichtet, geht dem einstigen Hitler-Jungen das Wort „Führer“ ganz ohne Anführungszeichen über die Lippen.
Eine bizarre Szene ist Walters Rückkehr an den Ort seiner Jugend. Wo sich einst das KZ Gusen befand, steht heute eine Siedlung. Mit Schaudern erinnert sich der alte Mann daran, wie er dort vor 75 Jahren Leichen transportiert hat. Er hatte sich mit 15 freiwillig zur Wehrmacht gemeldet und musste seine Kriegsgefangenschaft ausgerechnet im zwischenzeitlich befreiten Konzentrationslager seines Vaters verbringen. Einige Tage lang befanden sich die beiden Jugendlichen auf der gleichen Seite des Stacheldrahts, dann kehrte Dušan in seine Heimat zurück. Zwischen den heutigen Wohnhäusern schreitet Walter noch mal den Weg zu dem Massengrab ab, das er mit anderen Gefangenen ausheben musste. Ob es eine entsprechende Gedenktafel gibt, lässt die Dokumentation ebenso offen wie die Frage, ob die Bewohner der Siedlung wissen, dass ihre Häuser auf den Fundamenten des Lagers stehen.
Die ARD zeigt die Dokumentation „Getrennt durch Stacheldraht“ am 20. April um 23.30 Uhr. Und nach wie vor in der ARD-Mediathek.