Gemeinsam mit Anatol Regnier, dem Autor des gleichnamigen Buches, nähert sich der dutzendfach ausgezeichnete Regisseur Dominik Graf Schriftstellern wie Gottfried Benn, Erich Kästner oder Hans Fallada, die zwischen 1933 und 1945 in Deutschland geblieben sind. Der fast drei Stunden lange Dokumentarfilm geht der Frage nach, welche Haltung sie dem Nationalsozialismus gegenüber in ihrem Schreiben, Denken und Empfinden entwickelten.
In seinem Werk „Minima Moralia“ formulierte der Philosoph und Soziologe Theodor W. Adorno einst im amerikanischen Exil eine Erkenntnis, die zum geflügelten Wort geworden ist: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“. „Minima Moralia“ (kleinste Ethik), eine Sammlung von Aufsätzen und Aphorismen, trägt den Zusatz „Reflexionen aus dem beschädigten Leben“. Es geht darin um die Frage, ob sich der Mensch mit einem Dasein unter kapitalistischen und faschistischen Bedingungen arrangieren könne.
Um dieses Thema dreht sich auch Dominik Grafs fast drei Stunden langer Film-Essay „Jeder schreibt für sich allein“. Am Drehbuch des vielfach ausgezeichneten Regisseurs war neben Constantin Lieb zudem Anatol Regnier beteiligt, Autor des gleichnamigen Sachbuchs. Der Titel ist eine Paraphrasierung von Hans Falladas letztem Roman „Jeder stirbt für sich allein“. Der Bestsellerautor gehörte zu jenen Künstlerinnen und Künstlern, die nach 1933 in Deutschland geblieben sind. Sie führten, wie es der Schriftsteller Frank Thiess im August 1945 formulierte, ein Leben in der „inneren Emigration“: weil sie die Ideologie des Nationalsozialismus zwar ablehnten, ihre Heimat aber aus unterschiedlichsten Gründen nicht verlassen wollten. Einige zogen sich in die Provinz zurück; andere, darunter Erich Kästner, versuchten, sich irgendwie durchzumogeln. „Versteckspiel mit sich selbst“ lautet ein Zwischentitel des Films.
Allerdings gab es auch Künstler wie den bis heute verehrten Gottfried Benn, die einen Pakt mit dem Teufel eingingen, und damit ist der Film bei einer zeitlosen Frage: Lässt sich Kunst von den Personen trennen, die sie erschaffen haben? Ein weiterer Aspekt befasst sich mit dem Vorwurf, es sei anmaßend und selbstgerecht, aus sicherer räumlicher oder zeitlicher Entfernung Widerstand einzufordern; Graf geht auch auf die schließlich in den RAF-Terror eskalierten Konflikte zwischen der Elterngeneration und ihren Nachkriegskindern ein.
Angesichts der beeindruckenden Komplexität ist es nicht weiter verwunderlich, dass „Jeder schreibt für sich allein“ über weite Strecken wie eine Vorlesung wirkt. Bei derart intellektuellen Stoffen besteht zudem die Gefahr der filmischen Unterforderung; allein die Textebene würde ein dickes Drehbuch füllen. Damit es auch was fürs Auge gibt, hat Graf seinen Protagonisten Regnier zu verschiedenen Schauplatzen geschickt. Eine Reise in das südfranzösische Exil Klaus Manns beschert dem Thema zwar keinerlei Erkenntnisgewinn, aber das Deutsche Literaturarchiv in Marbach birgt einige handschriftliche Kostbarkeiten, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren.
Neben den kritischen Einwürfen unter anderem von Grafs einstigem Produzenten Günter Rohrbach, der Journalistin Gabriele von Arnim sowie des Autors Florian Illies sorgt vor allem die assoziative Gestaltung für Abwechslung. Während das geteilte Bild bei den Ausführungen der Gäste wie eine unnötige Spielerei wirkt, weil es sie gleichzeitig von vorn und von der Seite zeigt, ergänzt Graf (Ko-Regie: Felix von Boehm) die interessanten Schilderungen des Frank-Wedekind-Enkels Regnier im Stil einer Collage um passendes zeitgenössisches Material. Selbst die gute Sprechleistung von Jeanette Hain und Philipp Moog, von Grafs raunender Stimme ganz zu schweigen, kann jedoch nicht verhindern, dass einige ellenlang vorgetragene Texte auf Dauer ermüdend sind. Die Aktualität des Films Essays steht dagegen außer Frage. Faschismus, heißt es gegen Ende, ist wie ein Virus: „Die Infektion streut weiter.“
„Jeder schreibt für sich allein“. D 2023. Buch: Anatol Regnier, Dominik Graf, Constantin Lieb. Regie: Dominik Graf, Felix von Boehm. Kinostart: 24. August