„Was hat das mit uns zu tun?“, fragen sich manche Jugendliche, wenn sie in der Schule mit dem Horror des Holocaust konfrontiert werden. Eine ganz ähnliche Frage stellt der Chefredakteur einer Provinzzeitung, bei der Nicholas Winton 1988 vorstellig wird. Der damals knapp achtzig Jahre alte Rentner ist beim Ausmisten auf ein Album gestoßen, das die Rettung jüdischer Kinder aus Prag dokumentiert. Auf Umwegen landet die Information bei der Frau des Verlegers Robert Maxwell. Sie glaubt zunächst, es habe sich um eine Handvoll Jungen und Mädchen gehandelt, aber Winton hat einst 669 Kindern die Ausreise nach England ermöglicht; und davon erzählt „One Life“.
Dank Steven Spielbergs Meisterwerk „Schindlers Liste“ (1993) kennt alle Welt den Unternehmer Oskar Schindler, dem 1.200 Menschen ihr Leben verdanken. Nicholas Wintons Geschichte mag nicht ganz so spektakulär sein, aber sie verdient ebenfalls allerhöchste Anerkennung. Abgesehen davon ist James Hawes’ historisches Drama schon allein wegen Anthony Hopkins sehenswert: Der zweifache „Oscar“-Preisträger verkörpert den früheren Börsenmakler mit einer Zurückhaltung, die wohl auch dem Wesen Wintons entsprach.
Ein Börsenmakler rettet jüdische Kinder
Geschickt verknüpft das Drehbuch die Gegenwart der späten Achtziger mit den Erinnerungen Wintons (in den Rückblenden von Johnny Flynn verkörpert): 1938 reist der damalige Börsenmakler nach Prag, wo Tausende vor den Nationalsozialisten geflohene jüdische Familien in erbärmlichen Verhältnissen hausen. Als er erkennt, dass vor allem das Leben der Kinder durch Hunger, Kälte und Krankheiten bedroht ist, organisiert er den Transport von immer größeren Gruppen.
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Mit großen Kinobildern rekonstruiert Hawes das Elend in den Flüchtlingslagern. Gerade die in Prag errichteten Kulissen sind sehr eindrucksvoll. Seine intensivsten Momente hat „One Life“ allerdings in den persönlichen Szenen, wenn Winton zum Beispiel einen Rabbi überzeugen will, das Schicksal der Kinder in seine Hände zu legen. Die Rolle ist nur klein, aber Samuel Finzi macht daraus auch dank der Ironie, mit der er seine Figuren gern versieht, einen großen Auftritt. Rabbi Hertz will wissen, warum sich Winton diese gewaltige Aufgabe aufbürde, und das für Menschen, die ihm völlig fremd seien. Der christlich aufgewachsene Brite deutet kurz seine jüdische Familiengeschichte an, versichert jedoch, er sei Europäer, Agnostiker und Sozialist. Er wolle nicht tatenlos zusehen, wenn jemand in Not sei: „Ich kann nicht anders.“
One Life: Ein filmisches Denkmal
Ähnlich überzeugend agiert Wintons Mutter Babette (Helena Bonham Carter) bei der Einwanderungsbehörde. Dort will man nicht auch noch fremde Kinder ins Land holen, wenn schon die eigenen nicht genug zu essen hätten. Spätestens jetzt wird offenkundig, warum die Verantwortlichen der Meinung waren, es sei genau der richtige Zeitpunkt, um diesem humanitären Engagement ganz gewöhnlicher Menschen ein filmisches Denkmal zu setzen. Der Titel „One Life“ ist eine Anspielung auf den berühmten Talmud-Spruch: „Wer auch nur ein Leben rettet, rettet die ganze Welt“.
Emotionaler Höhepunkt des Films ist ein Auftritt Wintons in der TV-Show „That’s Life“, in der er zu seiner völligen Überraschung auf einige Dutzend der mittlerweile um die sechzig Jahre alten Flüchtlingskinder trifft. Hawes hat bei der Inszenierung seines Kinodebüts auf Pathos, Melodramatik und Sentimentalitäten verzichtet, aber in diesem Moment bleibt kein Auge trocken.
„One Life“. GB 2023. Buch: Lucinda Coxon, Nick Drake. Regie: James Hawes. Kinostart: 28. März