Die litauische Regisseurin Lina Lužyte hat für ihren Dokumentarfilm über die Lage der Flüchtlinge in einem Lager auf der griechischen Insel Lesbos einen ungewöhnlichen Ansatz gefunden: Sie porträtiert den afghanischen Künstler Talibshah Hosini, der seit vielen Monaten mit seiner Familie in Moria lebt und seinerseits mit anderen Asylsuchenden einen Spielfilm über eine geflüchtete Familie dreht.
Ein völlig überfülltes Schlauchboot nähert sich, die Menschen sind offenkundig Flüchtlinge, aber sie sind nicht willkommen. 2020, informiert eine Einblendung, weigert sich Europa, noch mehr Geflüchtete aufzunehmen. Wer sich davon nicht abschrecken ließ, landete zum Beispiel auf der griechischen Ägäis-Insel Lesbos. Das 2013 eröffnete Aufnahmelager Moria war zu diesem Zeitpunkt jedoch bereits hoffnungslos überfüllt. Zeitweise lebten hier an die zwanzigtausend Menschen, konzipiert war es für zwei- bis dreitausend. „Für viele ist es zu einer Sackgasse geworden“, heißt es im Vorspann.
Der naheliegende Ansatz eines Films über die Zu- und Missstände in Moria wäre das Porträt einer Familie, die hier vor geraumer Zeit gestrandet ist, ergänzt um die Erzählungen weiterer Geflüchteter. Das Ergebnis wäre vermutlich eine Dokumentation geworden, die ihr Publikum gleichermaßen berührt wie empört und irgendwann bei Arte gelaufen wäre. Die aus Litauen stammende Regisseurin Lina Lužyte hatte eine gänzlich andere Idee. Ihr Ansatz ermöglicht es ihr, gespielte Szenen zu integrieren und dennoch dokumentarisch zu bleiben: „Picknick in Moria“ ist ein Film über den afghanischen Künstler Talibshah Hosini. Der Schauspieler, Autor und Regisseur hatte es gewagt, sich in einem Video kritisch über die Taliban zu äußern. Als ihm mitten in der Nacht telefonisch angedroht wurde, man werde eine seiner Töchter entführen, hat er Hals über Kopf das Land verlassen. Nun lebt die fünfköpfige Familie seit vielen Monaten in Moria. Gemeinsam mit anderen Asylsuchenden will Hosini einen Spielfilm drehen: „Picknick“ soll der Welt vor Augen führen, wie menschenunwürdig die Lage im Lager ist. Diese Dreharbeiten dokumentiert Lužyte.
Da kein Kommentar die Rahmenbedingungen erläutert, stiftet der Auftakt zunächst Verwirrung: Ein Mann klagt, sein Asylantrag sei abgelehnt worden, er wisse nicht mehr weiter und werde sich das Leben nehmen. Ein anderer bemängelt, der Vortrag klinge künstlich, und er solle doch bitteschön mehr Dramatik in seine Stimme legen. Erst anschließend, als Hosini einer Gruppe sein Projekt erläutert, stellt sich raus, worum es geht. Dann zeigt er Lužyte, wie er, seine Frau und die drei Töchter leben: in einer „Unterkunft“, die diese Bezeichnung kaum verdient, da sie größtenteils aus Planen und Wellblech besteht; „wie in der Steinzeit“, sagt Hosini.
Fortan verknüpft die Regisseurin Aufnahmen der Dreharbeiten mit Impressionen aus dem Lager. Alle Szenen zeigen die Realität, denn auch Hosinis Film basiert auf wahren Ereignissen, aber stets bleibt zunächst unklar, ob es sich um die echte oder um eine inszenierte Wirklichkeit handelt, was Lužytes Arbeit einen besonderen Reiz verleiht. Meist offenbart sich der „Film im Film“ erst, wenn Hosini als Regisseur eingreift, weil beispielsweise seine Tochter nicht authentisch genug „ertrinkt“. Dann kann er auch mal unangenehm werden.
Lužytes unter anderem von Walter Sittler produzierter Dokumentarfilm hätte mit der Uraufführung von „Picknick“ im Lager halbwegs „happy“ enden können, aber kurz darauf, im Herbst 2020, brach im Rahmen von Unruhen ein Feuer in Moria aus. Verletzt wurde nach offiziellen Angaben niemand, aber über zwölftausend Menschen waren obdachlos. Einziger Trost: Plötzlich machten die Behörden Tempo; mehr als der Hälfte der Betroffenen wurde ein Asylstatus zugesprochen.
„Picknick in Moria“. D 2022. Buch und Regie: Lina Lužyte. FSK: ab 12. Starttermin: 8. Juni