Filmtipp: „Wo ist Anne Frank?“

Szene aus dem Film: "Wo ist Anne Frank?" Bild: filmstarts.de/

Wie lässt sich das Interesse heutiger Jugendlicher für das berühmteste Tagebuch der Welt wecken? Ganz einfach: indem die Geschichte mit der Gegenwart verknüpft wird. Anne Frank hat ihre Aufzeichnungen an eine imaginäre Freundin geschrieben, und die wird in Ari Folmans kühnem Entwurf lebendig. Trotzdem ist das Animationswerk kein Kinderfilm.

Die Handlung spielt „irgendwann in naher Zukunft“ und beginnt mit einem Unwetter: Donner kracht, Blitze zucken. In dem Haus in der Prinsengracht 263, heute das Anne-Frank-Museum, zersplittert ein Glaskasten. Er birgt das Tagebuch, dessen Aufzeichnungen sich auf wundersame Weise in ein rothaariges Mädchen verwandeln. Fortan vollzieht sich die Handlung auf mehreren Ebenen. Wenn Kitty im Tagebuch liest, werden Annes Schilderungen lebendig; die Bilder zeigen die beiden Freundinnen im Dialog, illustrieren aber auch die Erzeugnisse von Annes Fantasie. In der Gegenwart wiederum will Kitty rausfinden, warum das Tagebuch plötzlich endet. Mit einem jungen Taschendieb rekonstruiert sie Annes letzte Lebensmonate, gemeinsam reisen sie nach Bergen-Belsen, wo das Mädchen 1945 im Alter von 15 Jahren gestorben ist.

Zu mehr als nur einem weiteren Film über Anne Frank wird der Stoff durch den politischen Bezug: In der Stadt begegnet Kitty immer wieder Flüchtlingen, deren Schicksal sie an Anne erinnert, weshalb sie schließlich zur Aktivistin wird. Repräsentationsfigur ist die kleine Awa aus Mali, auch ihre Geschichte wird erzählt, wobei sich diese Ebene stilistisch deutlich von den anderen unterscheidet. Das Design ist ohnehin eine Besonderheit. Die zeichnerische Physiognomie ist sicherlich Geschmackssache, die eckigen Bewegungen der Figuren sind ein Problem vieler digitaler Animationen, aber mit den bildgewaltigen Illustrationen von Annes Fantasien hat Folmans israelische Landsfrau Lena Guberman echte Gemäldekunst geschaffen. Als reizvoller Kontrast entpuppt sich zudem die Idee, die doch bedrückende Vergangenheit mit den Erzählungen vom Alltag im Hinterhaus farbenfroh zu gestalten, während die winterliche Gegenwart eher trist anmutet.

Einprägsam ist auch die Darstellung des Bösen: Der Nationalsozialismus wird von gesichtslosen Wesen verkörpert, die auch aus dem düsteren Teil des „Star Wars“-Universums stammen könnten. Ähnlich eindrucksvoll ist Gubermans Lösung für die Herausforderung, den Holocaust zu bebildern: Anne Frank hat sich sehr für griechische Mythologie interessiert, daher repräsentiert nun der Hades die Vernichtungslager. Anfangs, als das Mädchen noch die Hoffnung hat, der Krieg möge bald enden, lässt sie griechische Heerscharen gegen die NS-Horden antreten. Angeführt werden sie von Clark Gable, für den sie geschwärmt hat.

Andere Szenen können für Kinder allerdings auch sehr beängstigend sein. „Wo ist Anne Frank“ hat eine Altersfreigabe von sechs Jahren, was keinesfalls als Empfehlung zu verstehen ist. Der Anne-Frank-Fonds sieht als Zielgruppe Jugendliche ab zwölf Jahren. Neben den zum Teil beängstigenden Bildern würden Kinder zudem verschiedene Begrifflichkeiten nicht verstehen, aber wie schon Folmans vielfach preisgekröntes Werk „Waltz with Bashir“ richtet sich der Film ohnehin nicht zuletzt an Erwachsene, selbst wenn die Gespräche der beiden Mädchen an typische Teenagerproduktionen erinnern und Kittys Flucht vor der Polizei, die sie als vermeintliche Tagebuchdiebin sucht, betont actionreich umgesetzt ist. Folman ist auch Schöpfer jener israelischen Serie, auf deren Basis ab 2007 die international erfolgreiche US-Serie „In Treatment – Der Therapeut“ mit Gabriel Byrne entstanden ist.

„Wo ist Anne Frank“ kommt am 23. Februar in die Kinos.

 

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Quartalsbericht liegt vor

Einen detaillierten Blick auf das Mediengeschehen gibt der neue Quartalsbericht. Er speist sich aus den Auswertung von Internetseiten, Zeitungen, Fachzeitschriften, Informationsdiensten, Verbands- und Unternehmenspublikationen. Im Frühjahr nun hat das Internet erstmals das Fernsehen als wichtigste Quelle für „News“ abgelöst. Die gedruckten Auflagen der Pressemedien gehen weiter zurück, die Digitalumsätze legen zu. Fest steht außerdem, Zeitungen erhalten keine Zustellförderung. 
mehr »

Tarifverhandlungen: Unfaire Forderungen

Für die zweite Tarifverhandlungsrunde mit der dju in ver.di hatte der Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger (BDZV) ein Angebot zu Tariferhöhungen angekündigt. Doch der Verband legte am 25. Juli in Frankfurt am Main keine konkreten Zahlen vor. Die Tarifverhandlungen hatten am 27. Mai begonnen. Die dju in ver.di fordert zwölf Prozent mehr für Gehälter und Honorare. Damit soll der eingetretene Reallohnverlust ausgeglichen werden.
mehr »

Recherchen für die Demokratie

Die Uhr tickt – politisch und ökologisch. „Der Ton wird rauer, die Angriffe intensiver“, so NDR-Intendant Joachim Knuth im Begrüßungsgespräch mit Daniel Drepper, dem Vorsitzenden der Journalist*innenvereinigung Netzwerk Recherche (NR), die ihre Jahreskonferenz unter das Motto stellte: „Now is the time. Recherchen für die Demokratie“. Etwa 900 Teilnehmende trafen sich beim NDR Fernsehen in Hamburg zu Austausch und Debatte über die Rolle der Medien in Zeiten des politischen Rechtsrucks und der Klimakrise. 
mehr »

Renaissance einer Redaktion in Guatemala

Am 15. Mai 2023 stellte Guatemalas investigative Tageszeitung „elPeriódico“ ihr Erscheinen ein. Rund ein Jahr später sind die Köpfe hinter dem linken Leitmedium mit dem Online-Portal „eP Investiga“ wieder da. Die beiden Buchstaben eP erinnern an den alten Titel des Blattes, das sich dem Kampf gegen die Korruption verschrieben hatte. Offiziell gibt es keine Verbindung zur Familie Zamora und dem nach wie vor in Haft sitzenden Zeitungsgründer José Rubén Zamora. Allerdings tritt das investigative Portal für sein journalistisches Credo ein. 
mehr »